Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Erfahrung
sind einige meiner Kleidungsstücke und Ausrüstungsgegenstände überflüssig
geworden; die schicke ich jetzt nach Hause. Andere wiederum, die ich demnächst
benötige, habe ich mir postlagernd nachschicken lassen. Dieser wiederkehrende
postalische Austausch von Sachen funktioniert hervorragend. Auch einen
Schlafsack muß ich mir besorgen, da in den spanischen Herbergen weder eine
Decke noch ein Kissen zu bekommen sind. Die dicken Kniebandagen brauche ich
auch nicht mehr, ich behalte sie dennoch: Wenn ich sie links und rechts auf
eine zusammengerollte Jacke ziehe, ergeben sie eine hervorragende Nackenrolle.
Nach über zweitausend Kilometern
benötigen meine Schuhe eine gründliche Überholung: Einige Nähte sind
aufgegangen und die Absätze sind zum vierten Male abgelaufen.
Donnerstag, am 12. Juni
Von St-Jean-Pied-de-Port nach Roncevalles
Heute ist der
große Tag, an den ich seit Anfang meiner Reise mit Freude und Sorge gedacht habe:
Ich werde heute die Pyrenäen überqueren und spanischen Boden betreten.
Der mittelalterliche Pilgerführer
schreibt:
„...im
Baskenland verläuft der Jakobsweg über einen sehr bedeutenden Berg, der Cisapaß
heißt.... Dieser Berg ist so hoch, daß er den Himmel zu berühren scheint; wer
ihn besteigt, glaubt mit eigener Hand an den Himmel reichen zu können.“ Und weiter: „Die Zöllner nahe des Cisapasses sind schlecht und von Grund auf zu
verdammen. Sie gehen nämlich den Pilgern mit zwei oder drei Stöcken entgegen,
um sich gewaltsam einen Tribut zu erzwingen.“ Obwohl sie nur von
Händlern einen Tribut verlangen dürfen, schlagen sie den Pilger und „ nehmen ihm unter Vorwürfen ihren Preis und
durchsuchen ihn bis zur Hose.“ Schöne Aussichten!
Ich stehe, wie die anderen Pilger, um
fünf Uhr auf und nach einem kargen Frühstück mache ich mich auf den Weg. Das
Wetter ist zum Wandern ideal, bewölkt aber trocken. Hoffentlich bleibt es so.
Da diese Berge sich den von Westen kommenden feuchten Luftmassen
entgegenstellen, regnet es hier sehr oft, und wenn es nicht regnet, dann ist es
im Sommer unerträglich heiß. Bewölkt aber trocken wäre ideal. Heute könnte ich
Glück haben.
Ich bin in meine Gedanken so vertieft,
daß ich den Weg, der kurz nach der Stadtgrenze links in die Höhe steigt,
verpasse und, auf der breiten Autostraße bleibend, im Tal weitermarschiere. Ich
fühle mich wohl: Der entrümpelte Rucksack ist merkbar leichter geworden.
Nach einer Stunde wundere ich mich
doch, daß es nicht aufwärts geht. Ich erkundige mich in einem Bauernhaus am
Wegrand, wie ich auf den richtigen Weg komme. Wieder habe ich Glück: meine
ungewollt eingeschlagene Route ist eine unübliche, aber markierte Wegvariante.
Bald sehe ich die ersten rotweißen Striche, die mir die Richtung nach oben
zeigen.
Es wird verflixt steil. Bis zum Gutshof
Errekartea kann ich dem Asphaltstreifen für Anlieger folgen, aber danach gibt
es nur einen mit Farn völlig überwucherten Feldweg, der nicht mehr benutzt
wird: Die seltenen, einzeln am Wegrand stehenden Bauernhäuser, die oft von
riesigen Eichen oder Esskastanienbäumen bewacht werden, sind verlassen.
Ich komme auf einen schmalen Fahrweg
und folge ihm. Bald biegt ein markierter Pfad nach rechts in den Wald ab, wird
immer schmaler, bis er sich in einem engen Bachtal fast verliert. Vorbei an
einer zugewachsenen Hofruine verlasse ich das enge feuchte Tal. Der erst
bewaldete, später mit Farn bewachsene lange Hang, den ich überquere, ist so
steil, daß es nicht ganz ungefährlich wäre, hier mit dem schweren Rucksack
auszurutschen.
Dann führt der noch immer markierte
Pfad in der Fallinie steigend zu einem schönen alten Buchenwald hoch, in dem
Schafe nach dem hier kaum zu findenden spärlichen Gras suchen. Da die
Markierungszeichen recht sparsam angebracht sind und der Steig völlig unscheinbar
und sehr beschwerlich ist, glaube ich, mich verirrt zu haben, aber die immer
wieder angetroffenen rotweißen Streifen besagen, daß alles seine Richtigkeit
hat.
Schließlich schaffe ich es doch den Hof
Heillourre zu erreichen. Die Wälder sind hinter mir geblieben, vor mir steigt
ein weites Grasland in die Höhe. Am Rand einer mit Steinschüttung begrenzten
Wiese finde ich eine reich sprudelnde Quelle, die mich erfrischt und meinen
Durst löscht. Die kilometerweite Steinschüttung ist mit rotblühendem Fingerhut
dicht bewachsen.
In etwa tausend Meter Höhe erreiche ich
die schmale Asphaltstraße, deren Trasse am Anfang des vorigen
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