Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
beiden Männer
begleitet mich und zeigt mir meinen Schlafplatz. Dabei begegnen wir einem
Franzosen, der dabei ist, sich ohne Anmeldung hier einzurichten. Der Grund: er
hat einen Motorradhelm dabei, in der Herberge werden jedoch nur Fußpilger und
Radler aufgenommen, nicht aber Motorisierte. Auf die Anfrage behauptet der
Mensch, mit Fahrrad unterwegs zu sein. „Mit Fahrrad?“ fragt der Herbergsvater,
„Und was ist mit dem Sturzhelm?“ Der Gefragte überlegt einen Augenblick und
dann antwortet er: „Mein Fahrrad hat einen ganz, ganz kleinen Motor...“ Wir
lachen und er darf bleiben.
Der Ort Roncesvalles besteht nur aus
wenigen Bauten, von denen die aus dem 12. Jahrhundert stammende und bis zur
Unkenntlichkeit restaurierte Grabkapelle Sancti Spiritus die älteste ist. Dicht
daneben steht die frühgotische Jakobuskapelle. Die in die weitläufigen
Klosteranlagen eingebettete dreischiffige gotische Stiftskirche der Augustiner
und der Kreuzgang daneben wurden seit dem 13. Jahrhundert oft umgebaut.
Jeden Abend um acht Uhr wird in dieser
Kirche eine Pilgermesse zelebriert, die ich mir, besonders nach meinem tiefen
religiösen Erlebnis in Conques, nicht entgehen lassen möchte. Vielleicht bin
ich nur müde, oder ist es der Pilger, der vor mir sitzend während der Messe mit
seinem Brillenbügel Schmalz aus seinem linken Ohr holt und es anschließend
ableckt, der mich ablenkt: Den spirituellen Anschluß finde ich heute nicht,
obwohl die lateinischen Gesänge der fünf alten Mönche mir gut gefallen.
Das Refugio, wie die Herberge spanisch
heißt, ist einfach, alt, ehrwürdig und voll besetzt. Die meisten, die hier
schlafen, wollen morgen mit der Pilgerei hier anfangen. Immerhin ist die
Mehrheit zu Fuß, nur einige fahren mit dem Fahrrad. Fünf junge Frauen lassen
ihr Gepäck mit einem Kleinbus hinterher fahren. Sie haben einen giftigen Hund
dabei, der jeden Pilger anknurrt und beißen will. Zwei junge Franzosen, ein
auffälliges Pärchen, sind wie aus der VOGUE ausgeschnitten: Alles, aber
wahrhaftig alles an ihnen ist durchgestylt, sogar ihre hölzerne Pilgerstäbe
sind auffällige unbezahlbare Kunstwerke. Ich bin neugierig, wann die locker ins
gewellte Haar gesteckten Designer-Sonnenbrillen beim Laufen verrutschen werden.
Ich mache mir Sorgen, weil ich Rita zu
Hause nicht erreichen kann. Sie müßte schon lange aus Italien zurück sein.
Hoffentlich ist ihr nichts schlimmes passiert. Auch meine Schwiegermutter hat
nichts von ihr gehört.
Meinem Schwiegervater geht es nach
seiner Operation recht gut: schon Morgen wird er aus dem Krankenhaus entlassen.
Ich freue mich sehr darüber.
Freitag, am 13. Juni
Von Roncevalles nach Zubiri
Der Weg ist seit der Staatsgrenze doppelt und dreifach markiert. Die rotweißen
Streifen aus Frankreich sind kontinuierlich weitergeführt. Dazu gekommen sind
die spanischen Wegezeichen, die gelben Pfeile und, an manchen exponierten
Stellen, die meterhohen Betonsteine, in die schöne blaue Fliesen mit
stilisierten Jakobsmuscheln eingelassen sind. Bei dieser dreifachen Markierung
ist das Verirren unmöglich. Die Landschaft, die ich heute begehe, ist
ausgesprochen reizvoll und erinnert mich an unsere Mittelgebirge. Die weiten
Waldflächen sind nur in der Nähe der Dörfer von Ackerland unterbrochen;
meistens wird Weizen angebaut.
In dem darauf folgenden Eichenwald
weiden dunkelbraune Kühe unter den alten Bäumen. Ein ungewöhnliches Bild, da
bei uns zu Hause in den Wäldern höchstens Rehe zu sehen sind. Mir fällt ein,
daß in den früheren Jahrhunderten, als es in Deutschland noch mehr Wälder gab
und die wenigen freien Felder als Acker genutzt werden mußten, auch bei uns
Haustiere in die Wälder getrieben wurden.
Um die Jahrtausendwende ist Viscarret
eine wichtige Pilgerstation gewesen, noch bevor Roncevalles gegründet wurde.
Die leider zu stark umgestaltete frühromanische Dorfkirche ist eine Zeugin
dieser Blütezeit. Heute finden die Pilger hier lediglich eine Bar, wo sie sich
ausruhen können. Auch ich setze mich, und bekomme bald Gesellschaft: die
schönen Franzosen, ein junger Brasilianer, eine Münchnerin und ein etwas
alkoholisierter Engländer mit Seemannsmütze. Er kommt aus Manchester und duldet
keinen Widerspruch, wenn er lautstark verkündet: Manchester United ist die beste Fußballmannschaft der Welt!
Basta!
Hinter Linzoain, einem kleinen Dorf, wo
viele der alten Bauernhäuser auffallend schöne Eingangstore haben, steigt der
steinige Weg. Die schiefrigen Schichten
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