Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Jahrhunderts von
den französischen Eroberungstruppen Napoleons angelegt wurde, um die
strategisch gefährdete Talstraße über den Ibañeta-Paß, an der heute der
Autoverkehr fließt, zu meiden. Die Angst, in dem engen Tal vom Feind überfallen
zu werden, war nicht unbegründet und nicht ohne historisches Beispiel. Im Jahre
778 zogen die christlichen Heerestruppen Karls des Großen über den Ibañeta-Paß,
um hinter den Pyrenäen gegen die heidnischen Mauren zu kämpfen. Um sich für
alle Fälle den Rücken frei zu halten, haben die an Pamplona vorbeiziehenden
christlichen Truppen die Stadt der baskischen Glaubensbrüder sicherheitshalber
in Schutt und Asche gelegt. Böse Tat rächt sich. Als die fränkischen Truppen
sich auf dem Heimweg befanden, wurde ihnen von den einheimischen Basken an
dieser engen Stelle aufgelauert und die Nachhut unter dem Vasallen Roland
vernichtend geschlagen. Die dreihundert Jahre später entstandene französische
Heldensage, das „Rolandslied“, exkommuniert den Gegner: Aus den christlichen
Basken werden dort arabische Mohammedaner, was einem abendländischen Helden
wesentlich besser zu Gesicht steht.
Die Steigung der Straße ist stetig, aber
nicht mehr so arg wie bisher. Auf den Wiesen weiden scheue schwarzköpfige
Schafe und weniger scheue eher neugierige Pferde, die mir nachlaufen. Da ich
mit Pferden nie etwas zu tun hatte, ist mir diese Zuneigung nicht ganz geheuer.
Die extensiv gehaltenen Tiere leben hier frei, unter nur sporadischer Aufsicht:
Zwei Schafsskelette und der halb abgenagte Körper eines Fohlens zeigen, daß die
über mir interessiert kreisenden Geier keinen Mangel an Essbarem leiden müssen.
An einem Steinkreuz mache ich Mittagspause.
Schatten brauche ich nicht, es ist bedeckt. Unter den nach Osten ziehenden
Wolken bietet sich eine weite großartige Aussicht zurück ins Tal.
Ein Schäfer mit einem Krummstab läuft
an mir vorbei, er hat einen zotteligen Hund bei sich. Nur ein kurzer Gruß und
sie gehen weiter. Er ist der einzige Mensch, dem ich heute hier oben begegne.
Als ich nach einem kurzen Schlaf
aufwache, ist die Aussicht in dem Nebel, der aus Nordwesten hochsteigt,
verschwunden. Das milchige, graue Licht, das die Welt nach nur fünfzig Metern
vor mir enden läßt, und die hörbare Stille der Einsamkeit lassen mich rasch
aufbrechen. Ich will weiter, bevor der Nebel noch dichter wird.
Ein mannshoher Grenzstein mit dem
Schriftzug „ Navarra — Nafarroa“ teilt mir mit, daß ich
mit dem nächsten Schritt spanischen Boden betrete. Ist das nicht großartig?
Etwas weiter finde ich eine Quelle mit wohlschmeckendem Wasser. Was könnte ich
mir noch wünschen?
Ich hoffe, daß ich den höchsten Punkt
des Weges erreicht habe, aber als der Nebel sich lichtet, sehe ich, daß ich
noch eine weitere Steigung bewältigen muß. Dann ist es soweit: Ich stehe auf
dem berühmten Cisa-Paß!
Von dem Paß aus ist schon mein
Tagesziel, die tief unter mir liegende Klosteranlage von Roncesvalles, zu
sehen. Ein steiler Pfad führt von oben direkt dahin. Ich wähle einen Umweg über
den Ibañeta-Paß, auf dem ich einen alten Pilgerbrauch pflegen möchte. Wieder
zitiere ich den Codex Calixtinus:
„ Karl der Große, als er mit seinem Heer nach Spanien zog, zunächst hier
ein Kreuzzeichen aufstellte, dann das Knie beugte und nach Galicien gewandt
Gott und den heiligen Jakobus in einem Bittgebet anrief. Deshalb pflegen die
Pilger hier niederzuknien und ein Kreuz wie ein Feldzeichen aufzustellen.“
Neben der neuzeitlichen Kapelle am Paß
erhebt sich ein kleiner Hügel, der aus den Resten der unzähligen Holzkreuze
besteht, die die Pilger hier im Laufe der Jahrhunderte aufgestellt haben. Auch
ich habe auf dem Weg hierher im Wald zwei Stöcke geschnitten, aus denen ich mit
Hilfe von langen Grashalmen ein Kreuz binde, das ich zu den unzähligen anderen
Kreuzen, die hier in diesem Hügel stecken, hinzufüge.
Nach einer halben Stunde bin ich in
Roncevalles. Neben dem Klostereingang ist das Pilgerbüro, wo ich mich melde und
meinen Pilgerpaß mit den vielen Stempeln vorlege. Zwei Männer empfangen mich:
Der eine ist von der großen Entfernung, die ich zurückgelegt habe, sehr
beeindruckt, der andere weniger. Mit sichtlichem Mißtrauen blättert er in dem
Dokument hin und her und behauptet, mich vor kurzem hier schon mal gesehen zu
haben. Er drückt seinen Stempel sichtbar widerwillig auf die dafür vorgesehene
Seite und gibt mir das Heft mit Kopfschütteln zurück.
Der gutmütigere der
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