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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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der alten Herrlichkeit.
    Oder doch? Einem der Dorfbewohner ist
es zu verdanken, daß eine der historischen Pilgerherbergen nicht nur in ihrer
Bausubstanz erhalten geblieben ist; er hat das in seinem Besitz befindlichen
Gebäude löblicherweise ihrer ursprünglichen Aufgabe als Pilgerherberge
zugeführt. Es ist mir ein besonderes Vergnügen, in diesem restaurierten
traditionsreichen Haus übernachten zu dürfen. Wieder lasse ich meiner Phantasie
freien Lauf: Wie ist es damals gewesen? Was haben die Pilger gekocht, was haben
sie gegessen? Welche Lieder haben sie gesungen? Keiner stört mich bei der
Betrachtung der bunten Bilder: Auch hier bin ich heute der einzige Gast.
    Der in dem Nachbarhaus wohnende
Hausherr fragt mich am Abend, ob ich Eier möge. Danach bekomme ich drei Eier
geschenkt. Ein liebenswürdiges rührendes Zeichen der Gastfreundschaft.
     
     

Montag, am 9. Juni
Von Ostabat nach St-Jean-Pied-de-Port
    Ich habe mir eineFaustregel für heiße Tage erdacht und mehrmals ausprobiert. Sie lautet: „Bis
neun Uhr neun Kilometer“. Wenn ich in der frischen Morgenluft bis neun Uhr neun
Kilometer hinter mich bringe, habe ich den Großteil des Tagespensums bis elf
Uhr, bevor die Hitze lästig wird, geschafft. Dazu ist es allerdings
erforderlich, daß ich um fünf Uhr, wenn es draußen noch stockdunkel ist,
aufstehe. So wie heute. Ich trinke meinen Pulverkaffee, in dem ich das
steinharte Brot aufweiche, und esse die hartgekochten Eier, die ich gestern
geschenkt bekommen habe.
    Der schmale Asphaltstreifen, auf dem
ich das Dorf verlasse, setzt sich in einen Hohlweg fort, der hier der
historischen Pilgerroute entspricht. Heute ist der Pfad mit hohem Gras
bewachsen und durch wuchernde Brombeerbüsche eingeengt, aber für den
Betrachter, der einen Blick dafür hat, ist er alles anderer als unscheinbar.
Die Tiefe der Spur und die umweglose Zielstrebigkeit, mit der sie die Richtung
verfolgt, lassen erahnen, welche großen Pilgerscharen hier den Weg zu den
Pyrenäen gefunden haben.
    Nach Gamarthe ist die Wegführung
unübersichtlich. Ich folge auf dem schmalen Feldweg der rotweißen Markierung
und komme auf eine Auewiese, wo es nicht weitergeht: Die Spur hört vor einem
Zaun einfach auf.
    In solchen Situationen ist es
hilfreich, sich darauf zu besinnen, daß die vorangegangenen Pilger, die diese
Spur hinterlassen haben, auch nicht fliegen konnten. Es muß also eine
Möglichkeit geben, weiterzugehen. Aber wo? Und siehe da: Einige Schritte zurück
entdecke ich die Fortsetzung. Sie führt über einen Stacheldrahtzaun, dann ein
gewagter Sprung über den rauschenden Bach, danach quer durch ein tiefes
Maisfeld, und schon kann ich mit meinem schweren Rucksack über ein mit Kette
abgesperrtes Stahltor klettern, um wieder auf dem mit Markierung versehenen
Feldweg zu landen. Ich glaube nicht, daß dies der amtliche Pilgerweg ist, aber,
nach der Spur geurteilt, eine sehr frequentierte Alternative dazu.
    Bei dem viertürmigen Schloß von Apat
warten schattenspendende alte Eichen auf den müden Wanderer. Ich lege mich hin
und beobachte, wie die nach Osten ziehenden Wolken über mir sich in dem Geäst
der Bäume verstecken. Das monotone Plätschern des Baches wird von den Vögeln
mit frohem Gesang begleitet.
    Gut ausgeruht, aber schon in der
Mittagshitze, laufe ich weiter. In St-Jean-le-Vieux besuche ich die in der
Ortsmitte stehende Kirche. Nach einem kurzen Dankesgebet komme ich fast
frühzeitig in den Himmel: Ich möchte vor der Kirche die Durchgangsstraße
überqueren, wobei ich vergesse, daß die Zebrastreifen in Frankreich höchstens
als optische Fahrbahn Verzierungen gelten, sonst haben sie keinerlei Bedeutung.
Ein mit Hochgeschwindigkeit heranbrausender junger Fahrer schafft es nur knapp,
mich am Leben zu lassen, indem er sein Fahrzeug quietschen und schleudern läßt.
    Noch eine Stunde, dann ist es
geschafft: Ich stehe vor der Porte St-Jaques in St-Jean-Pied-de-Port! Ein
unbeschreibliches Gefühl, das meine enthusiastischen Empfindungen, die ich am
Bodensee, und später in Le Puy verspürte, noch übertrifft. Wieder ist ein
Meilenstein erreicht! Die heutige Etappe ist die letzte in Frankreich gewesen;
von hier geht es nach Spanien! Der nächste „Meilenstein“ steht in Santiago de
Compostela! Ich kann es noch immer nicht glauben, daß ich so weit gekommen bin!
    Links hinter dem wehrhaften Stadttor
ist eine Quelle. Ich lege meine Last ab und bin dabei, meinen Durst zu löschen
und den Staub und Schweiß vom Gesicht zu waschen,

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