Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
des Dolomit-Gesteins sind senkrecht gelagert,
wie die Blätter eines auf die Kante gestellten Buches. Millionen Pilgerfuße und
Wagenräder haben hier aus dem Gestein einen tiefen kastenförmigen Hohlweg
herausgetreten und herausgefahren. Ich laufe in diesem Steintrog, der mich zu
dem bewaldeten Höhenzug hinaufbringt. Im Schatten der hohen alten Eichen
gedeihen wohlduftende dunkelgrüne Eiben. Nicht nur ich, auch die Waldvögel
freuen sich ihres Lebens, indem sie sich beim Singen fast überschlagen.
Später werden die Eichen von Kiefern
abgelöst. Auf der Höhe des wenig ausgeprägten Erro-Passes liegt eine
unscheinbare Steinplatte am Wegrand, nur etwa drei Meter lang. Lang genug wird
er erst, wenn man erfahrt, daß nach der Sage dieser Stein die Schrittlänge von
Roland, dem sagenhaften Helden anzeigt. Da Roland von Franzosen als Franzose
angesehen wird, besuchten und verehrten besonders die französischen Pilger
diesen Stein.
Der Pfad senkt sich ins Tal der Arga
hinunter, und ich erreiche mein Tagesziel Zubiri. Der baskische Name bedeutet
zu deutsch „Dorf an der Brücke“. Das besagte Bauwerk ist eine mittelalterliche
steinerne Konstruktion, die mit zwei Bögen den Fluß überspannt. In früheren
Zeiten ist diese Brücke nicht nur dem Verkehr dienlich gewesen, auch in der
Tiermedizin hat sie eine gewisse Bedeutung erlangt: Tiere, die man bei
Niedrigwasser dreimal um den Mittelpfeiler geführt hatte, sollen immun gegen
Tollwut geworden sein.
Die einfache Herberge ist in der
ehemaligen Schule untergebracht. Wir sind nur drei Pilger, die hier
übernachten: zwei Italiener und ich. Alle anderen sind nach Larrasoaña
weitergelaufen: Die dortige Herberge soll besonders schön sein. Und besonders
voll.
Samstag, am 14. Juni
Von Zubiri nach Pamplona
Die ersten Kilometer hinterdem Dorf führen an einem Magnesitwerk und an dem dazu
gehörenden Abbaugebiet vorbei. Die wunde zerfurchte Erde als „Mondlandschaft“
zu bezeichnen, wäre für den Erdtrabanten eine schwere Beleidigung. Hinter dem
Industriegelände setzt sich das friedliche ländliche Tal der Arga fort. Am
feuchten Flußufer sind die Kiefern mit Moos und Efeu überwuchert.
In Larrasoaña versuche ich, etwas
Eßbares zu bekommen. Ich habe Glück: Von einem vorfahrenden mobilen Bäcker
bekomme ich frisches Brot.
Ich gehe in die von den Pilgern bereits
verlassene Herberge und koche mir einen Kaffee. In der wahrhaftig schönen
Herberge, die im Rathaus untergebracht ist, steht sogar ein voller Kühlschrank,
aus dem Butter, Milch, Wurst und Käse zum Selbstkostenpreis entnommen werden
können.
Der Wanderweg setzt sich nach Süden
fort, vorbei an alten wehrhaften Gehöften, immer in Sichtweite des Flusses. Vor
dem Dorf Zuráin überquere ich den Fluß auf der mittelalterlichen Steinbrücke.
Hinter dem Dorf muß ich eine Weile der Autoroute nach Pamplona folgen. Ich
merke, daß sich von meinem linken Schuh die Sohle abgelöst hat. Für solche
Fälle bin ich gerüstet: Ich repariere den Schaden mit Sekundenkleber.
Eine lange sechsbögige Steinbrücke
überquert den Seitenfluß der Arga, die Ulzama. Der jenseitige Brückenkopf wird
von den Bauten der Basilika und dem ehemaligen Pilgerhospiz Trinidad de Arre
beherrscht. Dahinter fangen schon die Vororte der Großstadt Pamplona an. Bald
kann ich die auf einer Anhöhe ruhende Altstadt sehen und nach einer knappen
Stunde betrete ich durch das alte Stadttor Portal de Zumalacárregui die Stadt.
Einer meiner Pilgerahnen, der Deutsche
Künig von Vach, der 1495 die Pilgerreise nach Santiago unternommen hatte,
schrieb damals:
„Dann kommst
du in eine Stadt, heißt Pepelonia. Und wenn du kommest über die Brucken, magst
du in ein Spital rucken.“ Und weiter: „...darinnen wohnet der
König von Navarra.“
Pamplona, eine römische Gründung, ist
die Hauptstadt des Königreiches von Navarra gewesen. Die Stadt ist zur Blüte
gelangt, als König Sancho III., ein großer Förderer der Pilgerfahrt nach
Santiago, um die Jahrtausend wende französische Handwerker nach Pamplona holte.
In den darauf folgenden Zeiten haben immer wieder bürgerkriegsähnliche Kämpfe
zwischen den getrennt wohnenden Einwanderern und den Einheimischen
stattgefunden, aber auch das konnte den durch die Fremden mitgebrachten
wirtschaftlichen Aufschwung nicht bremsen. Da die Pilgerherberge der Stadt erst
am morgigen Tag die Saison eröffnet, kann ich nicht ins „Spital rucken“; ich
nehme ein Zimmer.
Sonntag, am 15. Juni
Von Pamplona
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