Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
nach Puente la Reina
Am frühen Sonntagmorgen
sind die Straßen der Großstadt wie ausgestorben, nur die Cafés sind offen und
zeigen Leben. Zum heißen Milchkaffee bekomme ich ofenfrische
Blätterteig-Kuchen. Ich beobachte die lauten und schon in dieser frühen
Morgenstunde sehr agilen Gäste und denke, hier fängt Spanien erst richtig an.
Gekräftigt und in guter Laune mache ich
mich auf den Rest meiner Reise. Hinaus aus der Altstadt, vorbei an den
sternförmigen Befestigungsanlagen der alten Zitadelle durchquere ich die
westlichen neueren Stadtteile von Pamplona. Meine Schritte und die Schläge der
Stockspitzen auf den Steinplatten des Gehwegs hallen wie auf einem einsamen
Korridor. Die sonst sehr lauten Straßen so geräuschlos zu erleben, macht sie
unwirklich wie ein Traum.
Nach einem kurzen Stück Landstraße
durchquere ich das Dorf Cizur Menor. Ab hier laufe ich auf einem Feldweg.
Einsam kann ich diesen Weg nicht nennen: Etwa hundert Spanier, jung und alt und
alle sehr laut, laufen mit mir in dieselbe Richtung. Ich habe Glück: Es sind
nur Sonntagsausflügler, die bald einen anderen Weg nehmen.
An dem breiten, stetig steigendem
Vorland des Bergzuges Sierra del Perdón ist Getreide angebaut. Links und rechts
des Weges sind in einiger Entfernung kleine Ortschaften zu sehen. Eine von
denen, das auf einer Anhöhe liegende Guenduláin, ist verlassen: Die alte Kirche
und das stattliche Schloß sind nurmehr Ruinen.
Hinter Zariquiegui wird der Pfad
steiler. Sichtbar vor mir liegt der Paß Alto del Perdón. Doch bevor ich den
erklimme, passiere ich die neugefaßte alte Pilgerquelle Fuenta de Reniega, zu
deutsch „Quelle der Abkehr“. Der Name steht in Zusammenhang mit der Legende,
die über diese Quelle erzählt wird:
In längstvergangener Zeit, an einem
heißen Sommertag, hat hier ein Pilger den Weg verfehlt, und da er kein Wasser
mehr hatte, drohte er zu verdursten. In dieser mißlichen Lage erschien ihm der
Teufel und bot sich als Retter an, wenn der Pilger sein Ziel, das Grab in
Santiago de Compostela, aufgäbe und umkehre. Der Pilger hat dieser Versuchung
widerstanden: Er wollte lieber sterben als seinen Glauben zu verraten. So weit
ist es aber nicht gekommen: Im letzten Augenblick ist ein fremder Pilger
gekommen und hat dem Durstenden die hinter einem Busch versteckte Quelle, eben
diese Quelle gezeigt. Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte und sich bei dem
Fremden bedanken wollte, war der nicht mehr zu sehen. Jetzt erst wurde der
Pilger gewahr, daß er von dem heiligen Jakobus persönlich gerettet worden war.
Heute könnte die Quelle keinen Pilger
mehr retten: Durch den Neubau der Quellfassung und die Bewirtschaftung des
Hanges dahinter ist sie versiegt.
Vor einigen Jahren bin ich hier schon
mal gewandert. Damals kreisten noch Gänsegeier über dem einsamen Paß. Seit der
Bergkamm mit einer langen Reihe von überdimensionalen Windrädern bebaut wurde,
sind die großen Vögel nicht mehr da. Umweltschutz gegen Naturschutz, ein wahres
Dilemma. Die gigantischen Windflügel erzeugen ein Geräusch, das mich lange begleitet
und dem einer Autobahn nicht unähnlich ist.
Außer den Windrädern ist oben ein neues
Pilgerdenkmal aufgestellt worden. Eine Reihe von Schattenfiguren aus Stahlblech
strebt als Pilger in Richtung Santiago: Ein beliebtes Fotomotiv für Pilger aus
Fleisch und Blut, die sich in diese Gruppe einreihen und ablichten lassen.
Von der Paßhöhe läßt sich die restliche
Tagesstrecke wie auf einer Landkarte überblicken. Hinter einem mit
Eichenbuschwerk bewachsenen Geröllhang breitet sich flaches Ackerland mit den
drei Dörfern Uterga, Muruzábal und Obanos aus. In allen diesen Ortschaften
stehen zahlreiche stattliche alte Häuser, sogar kleine Paläste, deren Fassaden
mit meistens sehr großen und aufwendig gestalteten Steinwappen verziert sind.
Leider sind nur die wenigsten dieser Prachtbauten in einem auch nur
einigermaßen befriedigenden baulichen Zustand.
In Muruzábal muß ich mich entscheiden,
ob ich den direkten Weg über Obanos nach Puente la Reina nehme, oder den etwas
längeren über Eunate, wo die berühmte Kirche Santa Maria de Eunate zu
besichtigen ist. Ich wähle diese zweite Variante.
Die im Tal des Flüßchens Robo auf
freiem Feld stehende, weit sichtbare romanische Kirche besticht durch ihre
Stilreinheit, durch ihre ausgewogenen Proportionen und durch die Rätselhaftigkeit
ihrer Baugeschichte. Der relativ kleine achteckige Zentralbau mit der
fünfeckigen Apsis ist mit einem
Weitere Kostenlose Bücher