Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
nach Westen führt. Erst
durchquert der sich an den Hängen der Montejurra dahinschlängelnde Feldweg einen
ausgedehnten Eichenwald. Als dahinter die Sicht nach Norden frei wird, öffnet
sich die Landschaft. An der anderen Talseite liegt Villamayor. Über dem Dorf
erhebt sich die steile spitze Bergkuppe Monjardín, gekrönt von der Burgruine
des Castillo de Deyo. Ganz im Hintergrund sind hohe Berge zu sehen, die uns,
wie ein Riegel, von der Nordküste trennen.
In Luquin ist der Dorfplatz neu
gestaltet. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Bäume Schatten spenden
werden, aber die Sitzbänke und ein Brunnen bieten schon heute einen angenehmen
Rastplatz für Pilger.
Nach einer kurzen Pause überqueren wir
die Schnellstraße und dahinter die schilfbewachsene Furt eines Baches. Die
restlichen zehn Kilometer bewältigt ein schattenloser Feldweg, der zwischen
großen Getreidefeldern, die nur’ sporadisch von kleineren Weinfeldern
unterbrochen werden, sein Ziel verfolgt. In dem eintönigen Strohgelb der
Landschaft bietet eine Fläche, wo zartblau blühender Lein angebaut ist, eine
willkommene Abwechslung.
Etwa eine halbe Stunde vor unserem Ziel
passieren wir einen Kiefernwald, der sich für den längst fälligen Mittagsschlaf
anbietet. Ich schlafe schnell ein und erst beim Aufwachen merke ich, daß sich
ein Pilger zu uns gesellt hat.
Der Mann ist etwa Mitte vierzig,
spricht alle möglichen Sprachen und macht einen ruhigen gelassenen heiteren
Eindruck. Er ist auffallend elegant und teuer, aber zweckmäßig gekleidet; schon
sein breitkrempliger heller, sehr feiner Strohhut ist große Klasse. Da er recht
gesprächig ist, erfahren wir schnell, daß er Georges heißt, Spanier ist aber in
Genf lebt, wo er seine Geschäfte betreibt.
Er erzählt, wieviel Neues ihm das
Pilgern gibt, und das in einer Vielfältigkeit und Stärke, wie er es nie für
möglich gehalten hätte. Er sieht unterwegs viel mehr, auch Dinge, die er immer
schon hätte sehen können, aber noch nie gesehen hat. Ihm fliegen Gedanken zu,
die er noch nie gedacht hat, obwohl sie so einfach und naheliegend sind. Er
findet es wichtig, den Weg allein zu beschreiten. So bleibt das mentale Erleben
unverfälscht.
Die restliche Strecke laufen wir
trotzdem gemeinsam und ich denke: „Merkwürdig: Wieso hat er so einen kleinen
Rucksack?“ Ich frage ihn danach.
„Ja“, sagt er, „das hat schon seinen
Grund. Das Laufen ist nämlich die eine Sache. Essen und Schlafen sind etwas
anderes“. Er hat einen Hotel- und Restaurantführer bei sich und sucht sich
jeden morgen für den Abend etwas Feines. Dann bestellt er ein Taxi und läßt
seine zahlreichen Gepäckstücke mit der Abendgarderobe, Computer und was man
unterwegs so alles braucht zum Nachtquartier vorfahren. Dieses Hotel kann auch
schon mal fünfzig Kilometer vom Pilgerweg entfernt liegen, wenn sich näher
nichts besseres finden läßt. Dann läuft er seine Tages-Pilgerstrecke zu Fuß und
läßt sich am Ziel von demselben Taxi abholen und in sein Hotel bringen. Heute
bleibt er in Los Arcos, wir können zusammen Abendbrot essen. Suzanne ist von
ihm so beeindruckt, daß ich überlege, ob ich eifersüchtig werden soll, aber
auch mir imponiert er mit seiner verrückten Mischung aus kompromißlosem Laufen
und abendlichem Luxus. Wer macht schon sowas?
Das Refugio in Los Arcos ist von einem
jungen Belgier geleitet, der dies als ehrenamtlichen Dienst verrichtet. Auch er
ist schon mal aus Belgien nach Santiago gelaufen, und weil er gerade im Schwung
war, hat er noch die paar hundert Kilometer bis Fatima in Portugal an die Reise
angehängt.
Vor dem Essen besuche ich die
allabendliche Pilgermesse in der schönen Pfarrkirche de la Ascunción. Dort
treffe ich die beiden schönen Franzosen aus Roncevalles mit ihren kunstvollen
Pilgerstäben. Sie laufen und laufen, sind nach wie vor adrett und nicht mal
ihre modisch in die Haare gesteckten Sonnenbrillen sind verrutscht. Wieder bin
ich ein Vorurteil ärmer geworden.
Mittwoch, am 18. Juni
Von Los Arcos nach Viana
Mit dem Wetter scheine ichdas Glück gepachtet zu haben. Ich bin vor Jahren mal im
April in Spanien gewesen. Es war damals so heiß, daß wir jeden Tag schon um
halb sechs in der Frühe losgelaufen sind, um die Mittagshitze zu meiden. Da im
April die Sonne erst um halb acht aufgeht, liefen wir die ersten zwei Stunden
im dunkeln. Jetzt stellte ich mir anfangs die bange Frage: Wenn es schon im
April so heiß war, wie wird es jetzt im Juni sein? Nun, ich bin
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