Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Kirchenschiff steht das namengebende
Kruzifix, ein gotischer Corpus Christi, auf ein ungewöhnliches Y-förmiges Kreuz
genagelt. Wie ich schon erwähnte, wird von diesem Kreuz erzählt, daß es von
einem rheinischen Pilger aus Deutschland bis hierher auf dem Rücken getragen
wurde.
An der Klosterpforte, wo ich mich anmelden
möchte, muß ich erstmal lange warten: Der junge Geistliche ist mit den fünf
jungen Damen beschäftigt, die ohne Gepäck, aber mit dem Hund pilgern. Sie sind
in ein lustiglautes Gespräch vertieft und lassen sich von uns, müden und
hungrigen Pilgern, die Einlaß begehren, überhaupt nicht stören. Erst als ein
älterer spanischer Pilger die Geduld verliert und empört protestiert, werden
auch wir abgefertigt, ohne daß das aufregende Gespräch unterbrochen wird. So
bin ich hier mit den Nachteilen der Pilgerei als Massenbetrieb konfrontiert.
Hier zählt es nicht mehr, ob ich von weit komme oder erst von der Ecke, ein
Pilger ist hier wie der andere, ausgenommen, wenn man jung und weiblich ist.
Als ich das Aufnahmebüro verlasse, kann
ich beobachten, wie ein Spanier, der mit seiner Frau im Auto bis zu der
Eingangstür vorgefahren ist, seinen Rucksack aus dem Kofferraum holt und
schultert, bevor er in die Aufnahmestube reingeht. Auf dem Rucksack bammelt die
obligatorische Jakobsmuschel, die die Frau, bevor der Mann das Büro betritt,
geraderichtet genau so, wie Ehefrauen die Krawatten ihrer Männer zu richten
pflegen.
Die kleine Stadt Puente de Reina ist
eine typische Straßensiedlung, wie sie auf dem Jakobsweg so oft zu sehen sind.
Die auf die Brücke zufuhrende Hauptstraße, die Calle Mayor, ist die zentrale
Achse, an der alle wichtigen Objekte der Stadt aufgereiht sind. Auch die große
Kirche Santiago el Mayor steht am Rand dieser Straße. Das herrliche romanische
Portal ist reich mit figürlichen Darstellungen biblischer Szenen geschmückt. Im
Innern der sehr sehenswerten Kirche steht ein barocker Jakobsaltar sowie eine
etwas ungewöhnliche gotische Jakobsstatue, der Santiago Belza, der „Schwarze Sankt Jakob“.
Die Hauptsehenswürdigkeit von Puente de
Reina ist aber die Brücke Puente de los Peregrinos, die der Stadt den Name gab.
Sie wurde von einer Königin, deren Identität nicht mit letzter Sicherheit
feststeht, im 11. Jahrhundert für die Pilger gestiftet und von unbekannten
Baumeistern kunstvoll erbaut. Sie ist mit Sicherheit die schönste Brücke des
gesamten Jakobsweges. Der hier recht breite und bei Hochwasser besonders
reißende Fluß Arga ist mit sechs wohlproportionierten, zu den Ufern hin kleiner
werdenden Rundbögen überspannt. Die Pfeiler sind keilförmig, so werden die
angetriebenen Baumstämme abgewiesen. Damit der Baukörper dem steigenden Wasser
keinen unnötigen Widerstand bietet, sind über den Pfeilern Durchlaßöffnungen
geschaffen, die den seitlichen Druck der Strömung auf die Brücke mindern.
Insgesamt ist dieses Bauwerk eine großartige ästhetische und ingenieurmäßige
Schöpfung der mittelalterlichen Baukunst.
Die Herberge ist eng, der einzige
kleine Raum ist mit dreistöckigen Betten vollgestellt. Fast alle der 33 Betten
sind belegt. Der Aufenthaltsraum ist durch die vielen Raucher für einen
Aufenthalt ungeeignet. Die Gäste sind außergewöhnlich laut und verhalten sich
wie in einer Kneipe.
Abends blättere ich das Gästebuch durch
und finde einen Gruß von Horst und Dominik, die ich in Moissac getroffen hatte.
Sie sind vor drei Tagen hier gewesen. Sie schreiben:
„Lieber
János, laß dich von den Touristenmassen nicht entmutigen. Wir gehen auf unserem
eigenen Weg, wie wir bis jetzt auf unserem Weg gegangen sind. Auf nach
Santiago! Wir hoffen, dich bald wieder zu sehen!“
Sie müssen sich hier ähnlich gefühlt
haben wie ich mich jetzt fühle: irgendwie fremd. Die Menschen hier, das sind
nicht die Pilger, denen ich bis jetzt begegnet bin. Ich schreibe ins Gästebuch:
„Nach 120
Tagen im Regen und im Sonnenschein, die ich einsam oder mit lieben Pilgerfreunden
auf dem Weg verbrachte, habe ich nun die Schwierigkeit zu akzeptieren, daß ich
Teilnehmer einer Massenveranstaltung geworden bin. Gott verzeihe mir meine
elitäre Gesinnung, wenn ich manchen der hier versammelten Muschelträger die
Würde eines Pilgers abspreche. “
Ein Deutscher in meinem Alter, der mit
seinen spanischen Freunden unterwegs ist, liest meinen Eintrag und schreibt
darunter:
„ Wir sind seit gestern unterwegs und so maße ich mir nicht an über die Würde
eines Pilgers
Weitere Kostenlose Bücher