Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Aussagen treffen zu können. Ich hoffe diese Weisheit mit Gottes
Hilfe bis Santiago erreichen zu können.“
Ich fühle mich beschämt ob meiner
Arroganz. Sicher ist nicht jeder schon dadurch ein Pilger, daß er auf dem
Pilgerweg läuft oder radelt. Wie könnte er das auch sein? Erst der lange Weg
macht aus den neugierigen Wanderern demütige suchende Pilger. Und daß ich die
Demut auch nach so langem Weg noch fleißig üben muß, das steht nach dieser
Episode außer Frage.
Abends erreiche ich Rita. Endlich! Sie
erzählt mir, daß sie auf dem Rückweg aus Italien Freunde in Süddeutschland
besucht hat, die sie bei ihrer letzten Kur kennengelernt hat. Anschließend ist
sie mit einem von denen — „die anderen haben keine Zeit gehabt“ — noch einige
Tage in Meran gewesen zum wandern.
Der Ausdruck „Ich weiß nicht, was ich
denken soll!“ beschreibt nur ungenau meinen Gedanken.
Montag, am 16. Juni
Von Puente la Reina nach Estella
Die Nacht hat meine unguten Eindrücke, die ich von der Herberge gewonnen habe,
voll bestätigt: Das Erste Mal auf meiner Reise wurde ich heute Nacht von Flöhen
brutal zerstochen, ja richtiggehend massakriert.
Unausgeschlafen, ohne Frühstück und
nicht besonders wohlgelaunt laufe ich am Morgen los. Die Rettung naht nach
einer Stunde in Mañeru, wo ich einen Laden finde. Frisches Brot, etwas Käse und
Obst, und die Welt ist wieder in Ordnung.
Vor der Dorfkirche, wo ich mich zum
Morgenmahl niederlasse, bekomme ich Pilgergesellschaft: Die Dame aus
Deutschland, der ich seit Roncevalles immer wieder begegne, und einen Deutschen
aus dem Allgäu, beide etwa in meinem Alter. Wir essen unser Mitgebrachtes und
genießen den angehenden herrlichen Tag. Der Himmel ist fast wolkenlos, aber die
Temperatur ist höchstens 20 °C; für Pilger gibt es nichts besseres.
Da der Pilgerbruder es eiliger zu haben
scheint, bleibe ich mit meiner Pilgerschwester zurück. Die Standardfragen sind
schnell abgehakt: Woher, wohin, aus welchem Grund, mit welchem Ziel? Sie ist
eigentlich gar keine Pilgerin, sie macht eine Art Wanderurlaub von
St-Jean-Pied-de-Port bis Burgos. Deutsche ist sie auch nicht. Sie ist
Amerikanerin, aber ähnlich wie ich, lebt sie schon seit einer Ewigkeit in
Deutschland. Sie heißt Suzanne, (nicht mit „s“, sondern bitte mit „z“), und hat
Sprachen studiert. Spanisch kann sie auch. Vielleicht bewirkt es die gemeinsame
Erfahrung mit unserer Wahlheimat, daß wir schnell zu einem Gespräch finden, das
wir beim Weiterlaufen fortsetzen.
Bald erreichen wir das auf einem Hügel thronende
weit sichtbare weiße Dorf Cirauqui, das mit seinen Befestigungsanlagen getreu
seinem baskischen Namen, zu deutsch „Vipernest“, einen sehr wehrhaften Eindruck
macht. Am Rande der steilen Gassen und um den kleinen Hauptplatz stehen mit
Steinwappen verzierte Adelspaläste als Zeugen vergangener Blütezeiten. Die am
höchsten Punkt der Stadt liegende Kirche San Román hat ein wunderbares Portal
in dem selben maurischromanischen Stil wie die Südportale der Kirchen in
Moissac oder in Puente la Reina: Die Unterkante der Torbogen ist mit
sägezahnähnlichen Zacken verziert, was ihnen einen orientalischen Eindruck
verleiht. Hinter Cirauqui setzt sich der steil nach unten führende Weg auf
einer ehemaligen Römerstraße fort. Das relativ gut erhaltene Steinpflaster und
die einen Bach überspannende einbogige römische Brücke läßt die
zweitausendjährige Geschichte dieses Weges an den Fußsohlen spüren. Am Wegrand
blühen große Büschel von strahlenlosen Kamillen; sie haben keine weißen
Blütenblätter. Wir begegnen einem älteren Mann, der die Pflanzen mit einer
Sichel erntet und in Pappkarton verpackt. Nach einem mittelalterlichen Steinweg
erreichen wir das Tal des Flusses Salado, wo eine Steinbrücke über das schmale
Wasser führt. Der Uferstreifen des Gewässers schimmert weiß von den
Salzkristallen, die das stark salzhaltige Wasser im Sand hinterläßt. Schon
unsere alte Bekannte Aymeric Picaud warnt davor, das Wasser des Salado zu
trinken:
„ Wage nicht, aus ihm zu trinken, weder du, noch dein Pferd, denn er ist
ein todbringender Fluß! Auf dem Wege nach Santiago, an seinem Ufer sitzend,
treffen wir zwei Navarreser, die ihre Messer schleifen, mit denen sie die
Pferde der Pilger enthäuten, die von diesem Wasser tranken und starben“.
In Lorca überqueren wir die Landstraße.
Ein rustikales Gasthaus bietet sich an, uns mit Getränken zu erfrischen. Auch
hier können wir, wie schon öfters,
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