Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
eine Besonderheit der hiesigen Gasthäuser
beobachten, in denen die Küche sich oft hinter der Theke befindet. Das ist zwar
umständlich, aber nichts besonderes, auch bei uns kommt manchmal diese
ungünstige Anordnung vor. Man läßt ein Stück der Theke weg, oder schließt diese
Aussparung mit einer Klappe. Hier macht man das anders: Die Thekenplatte ist
durchgehend und darunter ist eine Art Tunnel, durch den die Bedienung mit vollgepacktem Tablett, wie
eine Limbo-Tänzerin, sich mit kunstvoller Verrenkung in der Rückenlage
durchschlängelt. Eine bemerkenswerte artistische Leistung!
Die Herberge in Estella ist relativ neu
eingerichtet und, verglichen mit der Refugio in Puente la Reina, ein luxuriöses
Etablissement.
Estella wurde im 11. Jahrhundert als
Frankensiedlung gegründet. Die Franken wurden damals mit Vergünstigungen in das
Land gelockt, um die christliche Macht gegenüber den Mauren wirtschaftlich und
strategisch zu stärken. Viele der Siedlungen entlang des Jakobsweges sind
damals entstanden oder vergrößert worden. Die gebotenen Privilegien sind sehr
weitgehend gewesen. Beispielsweise war es für die einheimischen Navarresen
lange Zeit nicht erlaubt, in Estella zu wohnen. Durch die günstigen
Voraussetzungen und durch die wachsende Anzahl der Pilger hat sich die Stadt
schnell entwickelt und bekam die lobende Bezeichnung „Estella la bella“. Frühe Pilgerberichte übertreffen sich im
Lob, wenn sie über die Unterbringung und Versorgung der Pilger berichten.
Estella ist auch heute noch eine
wunderschöne Stadt. Die zahlreichen Baudenkmäler zu besuchen, würde mehrere
Tage in Anspruch nehmen. Pilgerschicksal: Wenn ich morgen weiterlaufen möchte,
muß vieles ungesehen und unbewundert bleiben, und das nicht nur in Estella. Ich
versuche, eine Auswahl zu treffen.
Als erstes schaue ich den Palast der
navarresischen Könige an, ein stilreiner romanischer Profanbau aus dem 12.
Jahrhundert. Die prunkvolle Fassade ist dreigeteilt, wobei die Gesetze der
Physik auf den Kopf gestellt scheinen. Eine offene, großbögige Arkadenhalle
bildet das Untergeschoß. Im Mittelteil ist der massige Wandstreifen durch
feingegliederten Säulenfenstern aufgelockert. Der obere Abschluß ist ein
öffnungsloses, Schwere vermittelndes Mauerband. Diese Anordnung löst das
Gewicht optisch auf, indem sie es nach unten vermindert. Gleich gegenüber dem
Palast führt eine Treppe zum romanischmaurischen Nordportal der Kirche San
Pedro de la Rua. Hinter dieser Kirche befindet sich der berühmte romanische
Kreuzgang, von dessen Quadrat bedauerlicherweise zwei Seiten schon im 16.
Jahrhundert zerstört wurden, aber die noch vorhandenen Teile sind von
wunderbarer Harmonie und Schönheit. Die Doppelsäulen, die den Rahmen bilden,
sind mit Kapitalen versehen, die biblische Szenen darstellen.
Eines der Säulenpaare macht zwischen
Fuß und Kopf eine schraubenförmige Umdrehung. Es wurde viel darüber gerätselt,
ob dies nur eine ästhetische Spielerei oder eine symbolische Geste ist. Man
weiß es nicht.
Abends wollen wir, Suzanne und ich,
essen gehen, aber die Unternehmung gestaltet sich schwieriger als erwartet.
Alle die in Frage kommenden Lokale sind geschlossen. Von dem von Aymeric
beschriebenen „guten Brot,
vorzüglichen Wein, von dem Überfluß an Fleisch und Fisch“ ist heute
abend leider nichts zu sehen.
Dienstag, am 17. Juni
Von Estella nach Los Arcos
Nach der gestrigen gutenwollen wir, Suzanne und ich, heute versuchen, ein Stück
des Weges gemeinsam zu laufen. Wir verlassen die Stadt in der Morgendämmerung
auf dem traditionellen Pilgerweg durch das Portal de Castilla. In der Nische
über dem Torbogen brennt das Licht der Gottesmutter.
Neben dem Kloster Santa Maria la Real
de Irache befinden sich die fabrikhallenartigen Gebäuden der Weinkellerei von
Irache, an denen der Pilgerweg vorbeizieht. Hier hat man vor einigen Jahren für
die Pilger eine aufwendig gestaltete schöne Brunnenanlage gebaut. Unter dem
Bildnis des heiligen Jakobs sind zwei Zapfhähne zu bedienen: aus dem einen
fließt frisches Trinkwasser, aus dem anderen guter navarresischer Rotwein,
selbstverständlich gratis. Aber es ist noch zu früh am Tag, um Wein zu trinken;
wir bleiben beim Wasser.
Ab Irache gibt es zwei Möglichkeiten,
weiter zu laufen: die erste, die meist beschriebene und begangene, ist der Weg
über Villamayor de Monjardín an der rechten Talseite. Ich wähle die zweite, die
schönere Variante, die auf der linken Talseite bleibend
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