Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
bei Clavijo über
die Mauren errungen hatten. In der legendären Schlacht soll der heilige Jakob
persönlich in die Kampfhandlungen eingegriffen haben. Auf einem weißen Schimmel
reitend und mit einem blanken Schwert in seiner Rechten, stürzte er sich auf
die heidnischen Gegner, tötete viele von ihnen und erzwang so die Entscheidung
zugunsten der Seinen. Neben seiner gewöhnlichen Abbildung als frommer Pilger
wird der Heilige in Spanien oft hoch zu Roß als Matamoros, zu deutsch Maurentöter, dargestellt. So auch hier,
am barocken Südportal der Santiago-Kirche, wo er in beiderlei dieser sich
widersprechenden Gestalten zu sehen ist. In der Mitte der Stadt befindet sich
die Kathedrale Santa María la Redonde, ein prächtiger barockisierter gotischer
Bau. Man merkt, daß Logroño auch nach dem Ausbleiben der Pilgerströme vermögend
geblieben ist und sich erlauben konnte, seine Repräsentativbauten dem
Zeitgeschmack entsprechend immer wieder umbauen zu lassen.
Nach einem kleinen Imbiß setzen wir
unseren Weg auf der breiten Ausfallstraße fort. Es ist wahrhaft kein Genuß,
hier zu laufen und die Abgase des stockenden Verkehrs einzuatmen, aber nach
einer Stunde sind wir aus der Stadt hinaus und hinter einer breiten
Umgehungsstraße finden wir das Ländliche wieder.
Bald erreichen wir das Ufer des
Stausees Pantano de la Grajera, das Naherholungsgebiet von Logroño. Am Seeufer
sind Tische und Bänke aufgestellt, eine gute Gelegenheit für eine Ruhepause.
Die Sonne scheint, das Mitgebrachte schmeckt. Ich fühle mich entspannt und
wohl. Erstaunt registriere ich, daß der heutige Tag schon der vierte ist, den
ich mit Suzanne zusammen verbringe. Eigentlich laufe ich lieber allein und das
ist das erste Mal auf meiner Reise, daß ich mit jemandem die ganze Zeit
zusammen gehe. Mit ihr zu laufen ist sehr angenehm. Sie ist je nach Situation
gesprächsfreudig oder schweigsam, und wir haben dieselben Vorlieben, denselben
Geschmack, dieselbe Kondition und sogar dieselbe Schrittlänge. Ihre Erzählungen
sind interessant und oft sehr amüsant. Sie hat ihre Kindheit in New Jersey
verbracht, in New York Musik und Sprachen studiert, in der Schweiz und in
Deutschland gelebt, in China gearbeitet... Ich, der ich die Alte Welt noch nie
verlassen habe, kann über ihre Geschichten nur staunen. Die Stadt Navarrete hat
ihre mittelalterliche Struktur gut bewahrt, hat manche pittoresken Ecken, eine
schöne Pfarrkirche, aber die Bausubstanz der Bauten ist, bis auf wenige schön
restaurierte Ausnahmen, bedauernswert.
Alles Sehenswerte ist schnell
besichtigt. Später sitze ich in einem Café, wo im TV Stierkämpfe vom
vergangenen Sonntag gezeigt werden. Außer mir schauen etwa zwanzig durchweg
alte Männer zu; keine Frau, keine Jugendlichen. Vielleicht stirbt diese
umstrittene traditionelle Kulthandlung mit der alten Männergeneration bald aus?
Freitag, am 20. Juni
Von Navarrete nach Nájera
Es ist Vollmond und bei Vollmond soll sich das Wetter ändern. Die Frage ist nur, in
welche Richtung. Die vergangenen Tage waren meistens bedeckt aber trocken, dann
sonnig aber nicht zu warm. Sowohl die Hitze als auch der Regen wäre eine
Änderung. Mir wäre es am liebsten, wenn alles so bliebe, wie es ist.
Wir verlassen die Stadt auf der nach
Westen führenden Landstraße; auf den ersten fünf Kilometern gibt es keine
Alternative zu dieser Autopiste. Danach aber dürfen wir die Landstraße
verlassen und einem Feldweg folgen. Das Gelände, auf dem unsere heutige Strecke
verläuft, ist sanfthügelig und durchweg mit Reben bewachsen. Links, nach Süden
zu, sind ferne Berge zu sehen, in denen dunkle Regenwolken hängen. Rechts von
uns ist der Himmel wolkenlos. Wir haben die zum Laufen ideale Mischung: wolkig,
warm und trocken.
Bald bietet sich die gute Gelegenheit,
uns für die günstigen Weg- und Wetterverhältnisse bei den Himmelsbewohnern zu
bedanken. Der Feldweg ist auf einem halben Kilometer Länge von Hunderten von
Steintürmchen gesäumt, die vorbeigehende Pilger gebaut haben. Das Aufstellen
solcher Zeichen beruht auf einer alten römischen Tradition: So haben die
Benutzer der antiken Straßen Merkur, den Gott der Händler und Reisenden,
geehrt. Auch wir bauen ein Sterntürmchen aus den runden Geröllsteinen, mit
denen der rötliche staubige Boden hier durchsetzt ist.
Eine halbe Stunde vor Nájera erhebt sich
ein kahler Hügel, der Poyo de Roldán. Nach der Überlieferung hat Ferragut, der
muselmanische Riese, der Herrscher von Nájera,
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