Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Einerseits hat die Stadt zahlreiche
herrliche Bauten, die von der reichen Blütezeit, die in das 14. bis 17.
Jahrhunderte fiel, erzählen. Andererseits habe ich auf meiner Reise noch keine
so schöne Stadt gesehen, die sich so weitgehend im Verfall befindet.
Das wichtigste und auffälligste Bauwerk
der Stadt ist die Kirche Santa Maria, ein gotischer Bau aus dem 14.
Jahrhundert, der immer wieder, bis in die Barockzeit hinein umgestaltet und
erweitert wurde. Besonders interessant finde ich das Renaissance-Südportal, das
sich in einer bis auf den Dachsims reichenden chorartigen Nische befindet und
mit einer großen Kreuzigungsszene den Eindruck eines Altars erweckt.
Vor diesem Eingang ist eine Steinplatte
in den Boden eingelassen, deren Beschriftung mitteilt, daß hier der berühmte
Cesare Borgia begraben liegt.
Gleich seiner Schwester Lucretia wurde
auch er, Sohn des machtbewußten Papstes Alexander VI., in die machtpolitischen
Ränkespiele des Vaters einbezogen. Die Zeiten waren widersprüchlich: Kunst und
rege Bautätigkeit haben sich mit Giftmord und Verrat gut vertragen. Cesare war
als Soldat durch Mut und Geschick berühmt, durch Morde und Ehrlosigkeit
berüchtigt gewesen. Nach dem Tod des Vaters fiel er bei dem neuen Papst in
Ungnade. So mußte er nach Spanien flüchten, wo er im Dienst des navarresischen
Königs bei Kampfhandlungen um Viana im Jahre 1507 verstarb. Er ist nur
zweiunddreißig Jahre alt geworden. Die Umstände seines Todes sind, ähnlich wie
die Beurteilung seines Lebens, umstritten: Für manche ist er im Kampf gefallen,
für andere ist er von marodierenden Gaunern erschlagen worden. Diesen
Widerspruch spiegelt auch die Behandlung seines Leichnams: Erst wurde er in
allen Ehren in der Kirche beigesetzt, später wurde er aus der Kirche verbannt
und vor dem Eingang begraben.
Die auf der westlichen Stadtmauer
ruhende Kirche San Pedro ist nur noch eine Ruine; übrig geblieben sind nur die
Außenwände und ein wunderschönes Renaissance-Portal. Auch das Rathaus, ein
stattlicher Bau, neigt seine Front so gefährlich nach außen, daß ich befürchte,
hier werden demnächst Pilger oder Touristen von Trümmern erschlagen.
Ist es ein Wunder, daß auch das
Abendbrot, das wir nach langem Suchen finden, nichts taugt: Das Fleisch ist
verdorben, der Wein sauer.
Donnerstag, am 19. Juni
Von Viana nach Navarrete
Wenn man sich hinter derHerberge auf die Stadtmauer stellt, sieht man schon die
Großstadt Logroño, die wir in zwei Stunden erreichen werden. Hier endet die
Provinz Navarra. Logroño liegt schon in Rioja, wo der berühmte spanische
Rotwein wächst.
Feldweg dorthin führt über Wiesen,
vorbei am Naturschutzgebiet Pantano de las Cañas, wo an einem großen See viele
seltene Vögel brüten. Dann überqueren wir die Provinzgrenze, wo an der
Landstraße ein kleiner Industriebetrieb steht; der leitet sein furchtbar nach
Chemie stinkendes Abwasser in das vorbeifließende Bächlein. Der Bach fließt
schnurstracks in das Vogelschutzgebiet.
Vor Logroño steht am Wegrand ein
Häuschen, fast zugedeckt mit Bergen von Brettern, Platten und sonstigem
Schrott. Sechs bis sieben angeleinte Hunde grüßen uns laut bellend. Das ist das
Zeichen, auf das die Bewohnerin des Hauses zu warten scheint. Die ältere Señora
kommt heraus und begrüßt uns freundlich. Sie bietet uns Bonbons und getrocknete
Feigen an, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Einen Stempel in unsere
Pilgerpässe bekommen wir auch. „Feigen,
Wasser und Liebe“ steht auf dem Stempel.
Logroño ist die größte Stadt zwischen
Pamplona und Burgos; sie hat über achtzigtausend Einwohner. Wir überqueren den
breiten Fluß Ebro. Der Wasserstand im Flußbett ist sommerlich niedrig.
Grasbewachsene Sandbänke teilen den Wasserlauf in seichte Flußarme, in denen
Scharen von Störchen nach Beute suchen. Sie nisten inmitten der Stadt auf den
Türmen der zahlreichen Kirchen. Allein der Turm der Kathedrale ist von einem
Dutzend Storchennestern besetzt. Die großen Vögel scheinen sich an den
großstädtischen Geräuschpegel gewöhnt zu haben. Sie verrichten im emsigen
Pendelverkehr zwischen dem Fluß und dem Nest ihr Tagewerk.
Hinter der Brücke betreten wir die
Altstadt. Die schmale Gasse Rúa vieja, seit jeher die traditionelle
Pilgerroute, leitet uns zu einer alten barock gefaßten Pilgerquelle. Dahinter
steht die Pfarrkirche Santiago el Real, die nach der Überlieferung anläßlich
des Sieges errichtet worden ist, den die Christen im Jahr 834
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