Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
schon seit
einer Woche in Spanien und von Hitze keine Spur. Die Luft ist in der Frühe
angenehm frisch, später wohltuend warm, der Himmel meistens sonnig, die wenigen
Wolken sind Schönwetterwolken. Es sollte lange so bleiben! Der Feldweg, der aus
der Stadt hinaus führt, bringt uns weiter nach Westen. Die noch tief stehende
Sonne haben wir genau im Rücken, wodurch uns riesenlange Schatten vorauseilen.
Roland Breitenbach beschreibt in seinem Pilgerbuch „Lautlos wandert der Schatten “ dieses Schauspiel, das sich auf
diesem Weg zwischen dem Pilger und seinem Schatten täglich wiederholt: Am
Morgen weist der Schatten vor uns den Weg nach Westen, am Mittag begleitet er
uns und am Abend bleibt er hinter uns, um uns voran zu treiben. Ein schönes
Bild.
Mich lehrt mein Schatten aber etwas
anderes: Am Morgen türmt sich ein langer und dunkler Schatten vor mir. Den zu
überwinden, den hinter mir zu lassen, ist die Aufgabe, die sich mir stellt. Ich
nehme diese Aufgabe an und hoffe, meinen Schatten besiegen zu können. Es ist
nicht die Arbeit, die zu schnellen und spektakulären Ergebnisse führt. Im
Gegenteil: Obwohl ich schwitze und Müdigkeit verspüre, bleibt die Länge des
Schattens fast unverändert. Erst Ausdauer und Beharrlichkeit bringen allmählich
den erhofften Erfolg. Ich komme auf meinem Weg weiter, indem ich meinen
Schatten überwinde. Jeden Tag neu. Immer wieder. Ein ganzes Leben lang.
In Torres del Rio steht eines der
schönsten architektonischen Schatzkästchen auf dem Weg, wie es die Templer zu
bauen pflegten. Die Kirche Santo Sepulcro, die Heilig-Grab-Kirche, hat einen
achteckigen Mittelbau, eine halbkreisförmige Apsis, achteckige Dachlaterne und
einen basteiartigen runden Turm. Wir wollen die Kirche auch innen besichtigen.
Nach meinem Pilgerbüchlein hat die neben der Kirche wohnende Señora Carmen Alba
den Schlüssel.
Vor der Kirche treffen wir unseren
Allgäuer Pilgerbruder wieder. Er sucht schon eine Weile nach der besagten
Señora, aber sie scheint nicht zu Hause zu sein. Auch ich versuche zu klopfen
und zu klingeln, betrete sogar das nicht verschlossene Haus, aber da ist
niemand.
Als letzten Versuch geht Suzanne zu den
drei Frauen, die, während wir suchen, vor der Kirche stehen und miteinander
tratschen. Sie fragt, ob sie wüßten, wo Señora Alba zu finden sei. „Ja“, sagt
eine der drei Damen, „ich bin es“, und klimpert mit dem Schlüsselbund.
Sie hat also in der ganzen Zeit
zugeschaut, wie wir sie suchen, und hat sich nicht bemerkbar gemacht. Eine
göttliche Gelassenheit!
Dann dürfen wir in die Kirche hinein.
Das Suchen und Warten hat sich gelohnt. Der relativ kleine aber hohe zentrale
Raum ist außergewöhnlich sehenswert. Der in der Chornische stehende Altar mit
einem frühgotischen Kruzifix ist die einzige Einrichtung; so richtet sich die
Aufmerksamkeit auf die baulichen Elemente, auf die schön geformten romanischen
Kapitäle, Konsolsteine und feingegliederten Zierbänder. Die Besonderheit der
Kirche sind aber die den oberen Abschluß bildenden Gewölbe, die durch eine
besondere Anordnung der Deckenrippen klaren mozarabischen Einfluß zeigen. Diese
Rippen laufen nicht, wie das in der abendländischen Architektur damals und auch
später üblich war, in einem zentralen Mittelpunkt zusammen, sondern sie sind
nach Art der Strohsterne gebaut: ein achteckiger Strohstern, in dessen Mitte
ein Achteck frei bleibt. Solche Gewölbe waren in der arabischen Architektur
gang und gebe, wie das beispielsweise in der Moschee von Cordoba zu besichtigen
ist.
Wir setzen den Weg fort und kommen
recht früh nach Viana, wo sich vor der Herberge alle Pilger der letzten Tage
versammeln. Es gibt ein Problem. Ein Schild teilt uns mit, daß die nächste
Herberge, die wir alle morgen ansteuern wollten, die in Navarrete, geschlossen
ist. Die naheliegende Lösung: Aus drei Tagesstrecken zwei zu machen, also heute
weiter nach Logroño zu laufen, und morgen von dort nach Nájera. Das sind an
Stelle von etwa dreimal zwanzig Kilometer zweimal dreißig. Mir ist das zuviel.
In Navarrete gibt es aber ein kleines preiswertes Hotel. So bleiben die beiden
Franzosen — sie heißen Yvette und Jean-Claude — sowie Suzanne und ich in Viana;
alle anderen, auch der Seemann mit dem Fußballerherz sowie die lärmenden jungen
Damen mit dem ständig knurrenden Hund, laufen weiter nach Logroño. Ich gebe zu,
daß ich nicht traurig darüber bin.
Das auf einem Hügel thronende Viana
weckt widersprüchliche Eindrücke in mir.
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