Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
mehrere christliche Ritter in
seiner Burg gefangen gehalten. Der sagenhafte Held Roland hat sie befreit,
indem er diesen Hügel bestieg, von hier aus den Riesen mit einem gutgezielten
Steinwurf zum Tode beförderte und danach die führungslos gewordene Burg
einnahm.
Der Name Nájera soll arabischen
Ursprung haben und bedeutet „Ort zwischen Felsen“. Die Häuser der Altstadt
stehen auf dem schmalen Streifen zwischen dem Fluß Najerilla und einer Felswand
dicht gedrängt. Auch das wichtigste Bauwerk der Gemeinde, das 1052 gegründete
Kloster Santa María la Real ist am Fuß der Felsen wie angeklebt.
Die Gründungslegende besagt, daß König
Don Garcia während einer Jagd, seinem entflogenen Falken folgend, hier eine
Höhle entdeckte, in der er eine vom Öllicht beleuchtete Marienstatue vorfand.
Die Grotte mit der Statue und dem Licht ist heute noch zu besichtigen. Sie kann
von der gotische Klosterkirche aus betreten werden, deren Rückwand das stehende
Gestein bildet. Vor dem Grotteneingang sind die prunkvollen Sarkophage der
Könige von Nájera aufgereiht.
Der Kreuzgang des Klosters ist ein
Meisterwerk des spätgotischen plateresken Stils. Die Steinmaßwerke der Arkaden
sind von solcher filigranen Zartheit, daß ich mich frage, wie es überhaupt
möglich ist, solche feinen Spitzen aus dem harten Stein zu formen.
Abends ruft mich mein Freund Werner an.
Er würde gern das letzte Stück des Weges, wie schon am ersten Tag der Reise,
mit mir laufen. Er bekommt erst am 20. Juli Urlaub. In dieser Zeit hoffe ich
schon in Santiago angekommen zu sein; so wird das gemeinsame Laufen wohl nicht
gelingen.
Samstag, am 21. Juni
Von Nájera nach Santo Domingo de la Calzada
Vor einigen
Wochen erlebte ich täglich die Nähe, die die Begegnung mit Gleichgesinnten auf
dem langen Weg mit sich brachte. Der Ausdruck „Pilgerbruder“ war keine leere
Formel, er wurde mit Inhalt aus Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe
gefüllt. Michel, Pierre, André, Palma... Wo mögen sie jetzt sein? Sicher, jetzt
laufe ich mit Suzanne und ich genieße ihre Gesellschaft, aber wir sind von den
anderen genauso isoliert wie sie von uns. Man grüßt sich kurz mit einem Wink
und geht seines Weges. Der Anteil von Sportlern, Touristen, Kunstliebhabern,
Urlaubern oder von denen, die einfach nur abnehmen wollen, wächst. Man beäugt
sich gegenseitig: Von welcher Sorte mag wohl der andere sein? Fast wie zu Hause
im normalen Alltag.
Sind die drei jungen Spanier, die ich gestern
abend in der Herberge getroffen habe, Pilger wie ich? Sie wollen die 780
Kilometer von St-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela in achtzehn Tagen
geschafft haben. Das sind achtzehn mal dreiundvierzig Kilometer ohne Ruhetag.
Haben wir gemeinsame Erfahrungen, über die wir uns unterhalten könnten? Auch
wenn ein Gespräch zwischen uns zustande käme, was mir aus Zeitgründen
unwahrscheinlich erscheint, könnte das Thema nur lauten: „Soll Jakobsweglaufen
olympische Disziplin werden?“
Wir verlassen Nájera auf einem steilen
Waldweg und erreichen bald eine Anhöhe. Die Landschaft öffnet sich: Die gelben
Kornfelder und die grünen Reben bilden eine bunte Flickendecke, die die rote
Erde der Hügel bedeckt. Der Feldweg liegt auf lange Strecke sichtbar vor uns, wir
brauchen ihm nur zu folgen.
Hier begegnet uns die größte Eidechse,
die ich je gesehen habe. Das grüne, mit türkisfarbenen Punkten verzierte Tier
mißt gute vierzig Zentimeter und ist überhaupt nicht so scheu, wie seine
Artgenossen sind. Dies irritiert mich. Eine Eidechse hat gefälligst Angst vor
mir zu haben, auch wenn ohne jeden Grund! Sie sitzt in aller Seelenruhe vor
ihrer Höhle und beobachtet, wie wir an ihr vorbeimarschieren.
Hinter dem Dorf Azofra durchqueren wir
eine Senke, wo bewässerte Rübenfelder die westliche Grenze des Weingebietes von
Rioja markieren. Danach folgen ausgedehnte Weizenfelder, die, anders als bei
uns, stark mit rotem Klatschmohn durchgesetzt sind. Ein schöner Anblick für
uns, weniger schön für die Bauern.
Mittagspause machen wir unter den alten
Eichen, die die einzige weit sichtbare Baumgruppe bilden, die wir heute
vorfinden. Die Bäume sind eigenartig geschnitten, wie man im Frankreich die
Platane zu schneiden pflegt. Die dünnen Triebe sprießen unmittelbar aus dem
Stamm und aus den dicken Ästen. Diese Baumform ist die Folge alter bäuerlicher
Tradition der Gegend. Da die Wiesen in der Sommerhitze ausdörren, erntet man
das Laub der Bäume als Grünfütter.
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