Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
sind
wieder eine überschaubare Gruppe geworden: die beiden Franzosen Yvette und
Jean-Claude, die spanische Malerin Paloma, der Schweizer Marc, Suzanne, ich.
Die Zeit vergeht, wir haben Hunger.
Aber es tut sich nichts. Weder Messe, noch Knoblauchsuppe. Wir schicken Paloma
zu Don José Maria, damit sie sich nach dem Grund dieser Verzögerung erkundigt.
Sie kommt zurück und berichtet:
Morgen ist der Tag des Ortsheiligen San
Juan de Ortega. Aus diesem Anlaß wird heute Abend, wie in jedem Jahr, eine
Feier veranstaltet, an der die Mitglieder der Jakobusgesellschaft aus Burgos
teilnehmen. Da viele von ihnen bis 20 Uhr arbeiten, müssen wir auf ihre Ankunft
noch ein wenig warten.
Es ist schon 21 Uhr. Als ich die
Hoffnung bereits aufgegeben habe, die christliche Nächstenliebe in Form einer
Suppe zu erfahren, belebt sich die Szene: Etwa fünfzig Autos, vollgepackt mit
Menschen, Hunden, Körben und Flaschen, besetzen den Kirchenvorplatz. Alle
eilen, kaum, daß sie ausgestiegen sind, in die Kirche, wo Don José Maria mit
viel Routine eine kurze Messe zelebriert. Endlich wird der Speisesaal geöffnet.
Die Szene erinnert mich an die
Kaufhausöffnung beim Winterschlußverkauf. Auch wir Pilger werden von dem
Menschenstrom in den Saal gespült. Aber wo sollen wir uns hinsetzen? Alle
Stühle sind besetzt oder reserviert. So stehen wir, die echten Pilger, mit
unserem mitgebrachten Käse und Brot ziemlich ratlos an der Wand und sehen zu,
wie die gutgelaunten Jakobsfreunde aus Burgos die Tische mit feinen Speisen und
Getränken vollpacken und der Völlerei fröhnen. Von uns nimmt kein Mensch Notiz.
Wir sind enttäuscht und wollen den Raum
verlassen. Ich bin schon draußen, als ein Herr hinter uns herläuft und fragt,
wo wir hinwollen. Um Gottes willen! Wo denken wir bloß hin! Wir sind
selbstverständlich eingeladen!
Schnell wird ein zusätzlicher Tisch mit
sechs Stühlen herbeigeschafft und bevor wir uns setzen können, beladen die
freundlichen Menschen unsere Tischplatte mit allen denkbaren Köstlichkeiten,
die sie sich mitgebracht haben: Fleisch, Wurst, Fisch, Meeresfrüchte, Käse,
Kuchen, Obst, Wein, Kaffee... „Schmeckt es auch?“, fragen sie besorgt. Und ob
es schmeckt! Wie auf einem Hochzeitsmahl!
Diese überschwengliche Gastfreundschaft
rührt mich und während ich die guten Gerichte genieße, wundere ich mich
darüber, wie schnell das Glück der Enttäuschung folgen kann.
Auch der Hausherr, Don José Maria,
kommt zu unserem Tisch und fragt, woher wir kommen. Ich sage, ich komme zu Fuß
aus Deutschland, und hoffe, daß er dies anerkennend zur Kenntnis nimmt. Er
antwortet aber nur: „Ja, ich war auch schon in Berlin“. Paloma tröstet mich:
„Sei nicht traurig! Er hat schon zu viele Pilger gesehen!“ Die Tische sind
abgeräumt. Eine Musikkapelle spielt zum Tanz auf. Die Wahl der Instrumente ist
eigenartig: vier schräg spielende Saxophone und eine Trommel. Auch das
Repertoire ist nicht alltäglich: Wiener Walzer und spanischer Paso doble. Aber
es gefällt den Gästen, und sie alle tanzen mit einem merkwürdigen Ernst.
Zum Abschluß des Tages wird um
Mitternacht eine Strohpuppe vor der Kirche verbrannt. Wie so oft, so auch hier
ein heidnisches Ritual bei einem christlichen Fest.
Dienstag, am 24. Juni
Von San Juan de Ortega nach Burgos
Beim Frühstück istGeorges
plötzlich wieder da. Er hat in einem Hotel in Burgos übernachtet und sich mit
dem Taxi hierher zurückbringen lassen, damit er gar keinen Kilometer ausläßt.
Don José serviert uns in der Küche Milchkaffee. Das gestrige Fest ist gut
gelungen, die Stimmung nach dem Sturm ist von stiller Fröhlichkeit. Wir werden
mit Handschlag und Glückwünschen auf den Weg geschickt.
Den Anfang macht ein schöner Waldweg.
Hinter den letzen Bäumen kommen wir nach Agés, ein Dorf, von dem es nichts zu
berichten gibt. Eine halbe Stunde weiter liegt Atapuerca, wo immerhin ein
Bäcker zu finden ist. Wir setzen uns am Dorfende in das duftende grüne Gras und
essen das eben gekaufte, noch warme Brot mit Käse und Tomaten. Bald bekommen
wir Gesellschaft: Zwei junge Bauer machen einige Meter von uns Frühstückpause.
Obwohl wir uns nicht abgesprochen haben, essen auch sie Brot, Käse und Tomaten.
Dies nehmen wir als Zeichen der Nähe zu Land und Leuten und sind darüber wohl
zufrieden.
Dieses Gefühl wird von dem günstigen
Wanderwetter und der Schönheit der Landschaft noch weiter verstärkt. Obwohl die
Sonne mit voller Stärke vom Himmel strahlt, ist es nicht
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