Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Jetzt spenden uns die dichten Baumkronen
angenehmen Schatten. Wir, eine kleine Gruppe von Pilgern, genießen die Ruhe und
das schöne Wetter, und schauen der nicht enden wollenden Reihe von fremden
Pilgern zu, die unseren Ruheplatz passieren.
Ein junger Mann gesellt sich zu uns. Er
läßt seinen Rucksack hinuntergleiten und stößt, wie aus der Tiefe seiner Seele,
den Satz heraus: „Ich habe die Schnauze gestrichen voll!“ Dann legt er sich hin
und schläft sofort ein.
Wir setzen den Weg fort und bald
erblicken wir den weit sichtbaren Kirchturm von Santo Domingo de la Calzada.
Noch eine Stunde und die Stadt ist erreicht.
Santo Domingo de la Calzada gehört zu
den Ortschaften, deren Entstehung der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
zu verdanken ist. Domingo, ein frommer Mann aus dem nahen Viloria, hat sich im
11. Jahrhundert hier, am Flußübergang der Oja, niedergelassen und sein Leben in
den Dienst der Pilger gestellt. Auf sein Betreiben entstand hier eine heute
noch existente Steinbrücke, eine Herberge sowie ein gutes Stück gepflasterte
Pilgerstraße. Nach seinem Tod wurde er heilig gesprochen. Um das Grab wurde
eine Kirche erbaut, die in späteren Zeiten schrittweise zur heutigen Kathedrale
erweitert wurde. Von den zahlreichen Wundem, die sich um das ereignet haben
sollen, ist das „Hühnerwunder“ das bekannteste, wobei nach der hiesigen Version
nicht Jakobus, sondern der heilige Domingo den gehängten Pilgerjüngling
gerettet hat. In Erinnerung an dieses Wunder werden in der Kathedrale bis heute
ein weißer Hahn und eine weiße Henne gehalten. Der prächtige gotische Käfig mit
den lebendigen Vögeln ist im rechten Querschiff zu besichtigen.
Der schon zitierte Künig von Vach, der
um 1490 durch die Stadt reiste, empfiehlt:
„Die Hühnle
hinter dem Altar sollst du nicht vergessen. Die seien von dem Bratspieß geflogen.
Ich weiß fürwahr, daß es nicht erlogen ist, denn ich selber habe gesehen das
Loch, daraus ein der anderen nach flog, und den Herd, darauf sie sind
gebraten.“
Die Federviecher sind nicht die einzige
Sehenswürdigkeit der Kathedrale. Der dreischiffige, mit vielen Kapellen
erweiterte asymmetrische Bau — das rechte Querschiff wurde für die Aufnahme des
Heiligengrabes umgebaut — enthält noch viele romanische Bauteile aus dem 12.
Jahrhundert.
Von allen Kunstschätzen der Kirche
finde ich den goldenen Altar des großen gotischen Bildhauers Damián Forment am
großartigsten. Dieses Werk des bei uns fast unbekannten Künstlers kann den
Vergleich mit den größten Schöpfungen der gotischen Altarkunst bestehen.
Die in einem mittelalterlichen Gebäude
untergebrachte Herberge ist mit guter Küche und in Boxen geteiltem Schlafraum
großzügig gestaltet.
Mein Bett steht neben der Liegestätte
des jungen Mannes, der heute nachmittag die Nase vom Laufen voll hatte. Er
heißt Marc und ist Schweizer. Sein Urlaub reicht nicht bis Santiago. Dies
beeinträchtigt seine Motivation.
Suzanne kommt mit einer jungen
Spanierin ins Gespräch, die ähnlich wie sie über Erfahrungen in China verfugt.
Sie ist Malerin und hat, wovon ich mich am Nachmittag überzeugen konnte, ein
flottes Tempo beim Laufen.
Auch eine Gruppe von geistig
Behinderten, jung und alt, Frauen und Männer, übernachtet in der Herberge. Die
Gepäckstücke werden ihnen hinterher gefahren, aber laufen tun sie wie wir alle.
Sie sind auffallend gut gelaunt und sehr freundlich. Die ersten Hemmungen
meinerseits, die ich in dieser für mich ungewöhnlichen Situation habe, sind
schnell aufgehoben.
Abends in dem Restaurant, wo wir
speisen, steht Gallo, deutsch „Hahn“, auf der Speisekarte. Ob der weiße Hahn aus der Kathedrale im
Topf gelandet sein mag? Ich will es wissen und bestelle Gallo. Meine
Enttäuschung ist groß: Der Gallo ist eine Scholle.
Sonntag, am 22. Juni
Von Santo Domingo de la Calzada nach Belorado
Die heutige
Strecke nach Belorado ist etwa dreiundzwanzig Kilometer lang und das meiste
davon verläuft auf der stark befahrenen Landstraße. Dort zu laufen, ist wenig
genüßlich, dies tun sich nur Unentwegte an. Die anderen, und die sind die
Mehrheit, nehmen heute den Bus. So können sie heute länger schlafen.
Die kleinen Dörfer am Wegrand haben
bessere Zeiten erlebt, wie die reich ausgestatteten Kirchen bezeugen. Die
romanisch-gotische Pfarrkirche in Grañón besitzt ein prächtiges Retabel, das
wir anschauen und bewundern. Etwas weiter, im Dorf Redecilla del Camino, ist
eines der schönsten romanischen
Weitere Kostenlose Bücher