Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
heiß. Das helle Licht
läßt den Schatten pechschwarz, die Farben leuchtender, bunter werden. Die
Wiesen sind mit einem weichen bunten Teppich aus grünem Gras, schneeweißen
Margeriten, gelben Sonnenröschen und Klatschmohn gesäumt.
Ich erzähle Suzanne, wie wir als Kinder
die Knospen des Klatschmohns für ein Wettspiel benutzt haben. Wir mußten
abwechselnd in der Reihe nach erraten, welche Farbe die Blütenblätter der noch geschlossenen
Mohnknospen haben: weiß, rosa oder rot. „Schnaps, Bier oder Wein?“ Sie kennt
dieses Spiel nicht. Auch weiß sie nicht, wie man aus Mohnblüten einen Bischof
baut. Dazu benötigt man eine Knospe und eine verblühte Blume des Klatschmohns.
Aus der Kapsel der Blüte wird der Kopf, aus der geöffneten Knospe das rote Hemd
mit dem grünen Umhang gefertigt. Ob die Kinder in Ungarn heute noch die Kunst
des Bischofbauens beherrschen?
Wir erklimmen einen steilen, mit
Buschwerk bewachsenen Hügel, der uns als letzte Barriere von der Ebene um
Burgos trennt. Von oben erblicken wir in der Feme die Vororte der Stadt. Bis
dahin haben wir allerdings noch einen halben Tag zu laufen.
Nach weiteren zwei Dörfern überqueren
wir eine Autobahn. Die Großstadt kündigt sich mit den ersten
Industriebetrieben, Kasernen und Müllplätzen an.
Bevor wir uns in das Verkehrsgewühl der
letzten Kilometer stürzen, machen wir auf dem stillen Dorfplatz von Villafría
de Burgos eine Ruhepause. Das karge Mittagsmahl ist vom Klappern der Störche,
die auf dem nahen Kirchturm nisten, begleitet. Es ist unbeschreiblich, wie gut
ein Stück Käse oder eine Dose Tintenfisch nach sechs Stunden Laufen schmecken
kann! Keinen Champagner könnte ich jetzt mehr genießen als das kühle Wasser aus
der rostigen Dorfpumpe!
Es folgen zwei Stunden auf dem Rand
einer sechsspurigen Ausfallstraße, laut, schattenlos, häßlich. Dann verdichtet
sich die Bebauung, die neueren Wohnsilos werden von älteren Bauten abgelöst.
Bald verkünden uns prächtige Kirchen und Paläste: Wir sind in Burgos
angekommen.
Nach Künig von Vach besaß Burgos am
Ende des 15. Jahrhunderts 32 Pilgerhospize. Heute gibt es nur noch ein
einziges. Die einfache Herberge liegt etwa zwei Kilometer hinter der Stadt. Da
ich in Burgos eine Wanderpause machen möchte, verschiebe ich die fälligen
Besorgungen und Besichtigungen auf den morgigen Tag.
Die Herberge ist überfüllt: Alle die
Pilger, die die Reise von Belorado bis Burgos mittels Bus bewältigt haben, sind
wieder beisammen. Dazu kommen noch die zahlreichen anderen Pilger, die Burgos
als Ausgangspunkt gewählt haben. Ich darf mich über die Massen aber nicht
beklagen: Nach manchen Historikern sind im 13. und 14. Jahrhundert jährlich bis
zu einem halben Million Menschen nach Santiago de Compostela gepilgert. Damit
verglichen ist der Pilgerpfad heutzutage idyllisch einsam.
Mittwoch, am 25. Juni
In Burgos
Burgos liegt, von dem mildernden Klima
des Meeres durch hohe Bergzüge getrennt, in 900 Meter
Höhe. Ich bin hier schon mal vor Jahren im April mit dickem Anorak und Wollmütze
herumgelaufen und habe gefroren wie ein Schneider. Wenn nicht kalt, dann soll
es hier brütend heiß sein. Heute stimmt weder das eine noch das andere dieser
Klischees: Die kristallklare Luft ist nach wie vor frühlingshaft warm. Die
Stadt ist wunderschön und besitzt zahlreiche hervorragende Sehenswürdigkeiten.
Es ist ein vergeblicher Versuch, von
Burgos an einem Tag mehr als einen flüchtigen Eindruck zu bekommen. Die in der
Nähe der Herberge gelegene ehemalige Pilgerherberge Hospital del Rey und das
Kloster Las Huelgas Reales, das prächtige Stadttor Arco Santa María, die Kirche
San Nicolas mit ihrem wunderbaren Retabel, und als apotheotische Krönung: die
Kathedrale, das Wunder der abendländischen Kunst... Wenn es sonst keine
sehenswerten Bauwerke in Spanien gäbe, würden die in Burgos allein eine Reise
lohnend machen!
Daß wir bei Betrachtung der Kathedrale
nicht zu sehr in seelische Entzückung geraten und die Bodenhaftung verlieren,
dafür sorgt ein bärtiger junger Mann, der die Führung macht. Er ist nicht nur
ein stolzer Spanier, sondern auch ein kämpferischer Lokalpatriot. Seine in
Englisch gehaltene Beschreibung ist im Wesentlichen eine Aufzählung dessen, was
in der Kathedrale von Burgos das Größte, Höchste, Längste, Schönste, Schwerste
und Beste auf der Welt ist. Dabei schaut er immer wieder um sich, als ob er
fragen wollte: „Na, wie habe ich das alles gemacht?“
In der Kathedrale
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