Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
überwölbt, ist nur
Gott existent. Die in der Entfernung nach Westen strebenden Pilger erscheinen
mir als kleine, fleißige Ameisen und ich als einer von Ihnen: winzig und
unbedeutend, nur als Teil der Schöpfung wesentlich, ja großartig!
Aus meiner Großartigkeit werde ich von
einem jungen bärtigen Mann herausgerissen, der von einem Seitenpfad geradelt
kommt. Ich will ihm Platz machen, aber er bleibt bei mir stehen und fragt, ob
ich bei ihm einen Kaffee trinken möchte. Wie bitte? Wo denn?
Wir laufen etwa dreihundert Meter
abseits des Weges, wo sich in einer flachen Mulde die Ruine des ehemaligen
Klosters San Baudilio, abgekürzt San Bol, versteckt. Die Mauerreste wurden
ergänzt und mit einem Dach versehen. In dem Bau hat man eine einfache Herberge
eingerichtet, wo ein Dutzend Betten und ein Gaskocher die ganze Einrichtung
bilden. Wasser gibt es in der nahen Quelle, wo man sich auch waschen kann. Der
junge Mann, der sich als Louis vorstellt, lebt seit zwei Jahren hier als hospitalero, als Herbergsvater,
allein. Damit die Pilger an ihm nicht vorbeilaufen, beobachtet er von Zeit zu
Zeit den Pilgerweg mit einem Fernglas und wenn er jemanden erblickt, schwingt
er sich auf sein Fahrrad und fängt sich einen Gast. Seit einigen Wochen ist er
allerdings aus seiner Einsamkeit befreit: eine junge Pilgerin ist hier
hängengeblieben.
Ich bekomme einen Kaffee und den
Stempel in meinen Pilgerpaß. Die Frau erzählt mir in gebrochenem Englisch, daß
sie Ungarin ist und erst vor einem Jahr nach Spanien kam um zu studieren. Das
hat sie noch immer vor, aber vielleicht will sie erst nach Indien. Ich denke
dabei an meinen stringenten beruflichen Werdegang und bei diesem Vergleich
fühle ich mich uralt.
Als ich ihr dann sage, daß ich mich mit
ihr lieber ungarisch unterhalten möchte, weil mein Englisch nicht viel hergibt,
bleibt ihr vor der Überraschung die Sprache weg. Es ist auch nicht alltäglich,
daß in dieser versteckten Ecke der Welt, wo die Pilger mit Kaffee hingelockt
werden müssen, zwei von drei Menschen diese abwegige Sprache sprechen. Wir
nehmen die Gelegenheit freudig wahr, nach Monaten in unserer Muttersprache
sprechen zu können.
Louis hat eben neue potentielle Gäste
erblickt und radelt zum Weg hin. Als er mit ihnen zurückkehrt, ist meine Freude
groß. Es sind meine alten Pilgerfreunde Paloma, Marc und Georges, die ich,
trotz meines Ruhetags in Burgos, eingeholt und irgendwo überholt habe. Wir
wollen das Wiedersehen feiern, und da der mitgebrachte Weinschlauch von Georges
sich dabei schnell leert, bringt Louis eine neue Flasche Hiesigen dazu. Er
fragt, ob er uns eine Suppe kochen soll. Das paßt ja hervorragend: Es ist
Mittag.
Die Suppe muß lange kochen. Wir sitzen
auf der sonnigen Terrasse und lassen uns von der Ruhe und der Schönheit der
Landschaft verzaubern. Louis ist ein charmanter und sehr unterhaltsamer Gastgeber.
Unsere Fragen nach Einsamkeit und Langeweile können ihn nur amüsieren. Für
Unterhaltung sorgen doch die vielen Pilger, die ihn besuchen. Sie sind in der
Regel sehr interessante, manchmal regelrecht verrückte, aber keinesfalls
langweilige Menschen. Zur Illustration erzählt er uns einige nicht alltägliche
Beispiele von Pilgern, die in der letzten Zeit hier durchgelaufen sind.
So ist hier vor einigen Tagen, als es
besonders heiß gewesen ist, eine Truppe von Soldaten in voller Montur,
inklusive Waffe und Stahlhelm, durchgelaufen. Sie waren vorher in Bosnien im
Einsatz und sie wollten so dafür danken, daß sie heil heimgekehrt sind.
Eine Pilgerin war mit einer Urne
unterwegs. Sie hat diesen Weg mit ihrem Mann lange Jahre geplant. Da der Mann
verstarb, lief sie jetzt allein und verstreute unterwegs seine Asche.
Ein Mann schleppte einen etwa drei Kilo
schweren Stein mit sich und war der festen Überzeugung, die für das Laufen
nötige Energie aus diesem Stein zu beziehen.
Ein als Fußballspieler gekleideter Mann
trieb einen Ball vor sich her, bis nach Santiago de Compostela.
Ein junger Mann hatte einen Vogelkäfig
bei sich, in dem ein Kanarienvogel saß. Für diesen Vogel hatte er einen eigenen
Pilgerpaß ausstellen lassen, den er genauso wie seinen eigenen überall abstempeln
ließ.
Schotten im Schottenrock und mit
Dudelsack, Einradfahrer, Rückwärtsläufer... Es gibt kaum eine Verrücktheit, die
hier nicht schon in die Tat umgesetzt worden wäre.
Die Suppe, eine Hammelsuppe mit Reis
und Kichererbsen, heiß und fett, schmeckt wie das Land hier: einfach,
bodenständig, kolossal.
Weitere Kostenlose Bücher