Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Da das Essen mich müde macht, überlege ich, ob ich für
die Nacht hier bleiben soll. Genug gelaufen habe ich heute schon. Meine
wiedergefundenen Pilgergeschwister wollen aber weiter und ich würde gern bei ihnen
bleiben. Wir lassen uns noch einen starken Kaffee kochen und brechen auf.
Der Feldweg ist trocken und staubig,
mit Netzmustern von tiefen Rissen durchzogen. Hier hat es schon lange nicht
mehr geregnet. In den flachen Mulden, wo Windstille herrscht, versuchen kleine
schwarze Fliegen, aus meinen Augen und Ohren etwas schmackhaftes herauszuholen,
wie sie nach meiner Beobachtung es bei den Kühen zu tun pflegen. Wenn Wind
aufkommt, sind sie verschwunden.
Es folgt ein grünes Tal, das von
steilen wüstenkahlen Hängen begrenzt ist. Ich wechsele auf eine schmale
Asphaltstraße und erreiche die weit sichtbaren stattlichen Ruinen des
ehemaligen Antoniterklosters San Antón. Die Straße führt direkt unter einem
Bogen der ehemaligen Kirche durch. Der Antoniterorden wurde im Mittelalter
verehrt wegen der Fähigkeit, die Krankheit Antoniusfeuer, einen fiebrigen,
tödlichen Hautausschlag, zu heilen.
Von der Klosterruine aus ist mein
Tagesziel zu sehen: eine Bergkuppe, ähnlich wie eine Steinhalde. Auf ihrer
Spitze ist eine Burgruine, an der linken Flanke klebt das Städtchen
Castrojeriz. Am Eingang des Ortes steht eine große Kirche, die Stiftskirche
Nuestra Señora del Manzano. Eigentlich müßte ich kurz anhalten und sie mir
anschauen, aber jetzt bin ich wahrlich sehr müde, ich will nur noch duschen und
mich hinsetzen. Die Straße zieht sich in die Länge, die Herberge ist fast am
jenseitigen Ende der Stadt. Und die Stadt ist lang, wie Künig von Vach schon
damals bemerkte: „Auf deutsch ist es
geheissen die lange Stadt“.
Die Herberge ist voll. Der
Herbergsvater ist ein Original, hat das Aussehen und die Figur von Räuber
Hotzenplotz, ist lustig, laut, präsent. Seine Witze müssen gut sein, weil die
spanischen Gäste, die ihn verstehen, vor Lachen fast vom Stuhl fallen.
Ich trinke mit Paloma und Marc in der
Bar einen Wein, oder ist es schon der zweite? Plötzlich merke ich, daß ich
todmüde bin. Kein Wunder: Heute ist der längste Tag meiner Reise. Mit dem Umweg
zum Bahnhof in Burgos waren es zweiundvierzig Kilometer!
Freitag, am 27. Juni
Von Castrojeriz nach Frómista
In der Frühe werden wir mit gregorianischen Gesängen, die aus dem Lautsprecher
kommen, geweckt. Weder das Schnarchen der anderen Pilger noch die Kälte, die
nachts aufkam, hat meinen tiefen Schlaf gestört.
Hinter der Stadt folgt eine kurze aber
sehr steile Strecke, die aus dem Tal hinausführt. Der Hang ist kahl, eine
Steinwüste. Merkwürdig: Warum denken wir bei dem Wort „Wüste“ an Leere und Tod?
Diese karge Landschaft ist doch in höchstem Maße ästhetisch! Wahrscheinlich ist
unsere Einstellung zu der Landschaft von den uralten unbewußten Fragen
bestimmt: „Gibt es was zu essen? Wo kann ich mich verstecken, wenn Gefahr
droht?“ Wald ist schön, Wüste ist häßlich. Oben angekommen habe ich die
Empfindung einer Ameise, die auf eine Tischplatte hochgekrabbelt ist. Eine
vollkommen ebene trockene Wiese empfängt mich. Flache Erde und darüber das
Himmelzelt: sonst nichts, nicht einmal ein Weg, der weiterführt. Ob ich in
dieser Unendlichkeit stehen bleibe oder weiterlaufe, es macht überhaupt keinen
Unterschied. Bald aber wird es mir kalt, ich will doch weiter. Kleine
Steinmännchen zeigen die Richtung, die ich einschlagen muß.
Nur fünfhundert Meter weiter ist das
vermeintlich unendliche Plateau zu Ende und bricht wieder mit einer scharfen
Kante in die tiefere Ebene hinunter. Von oben ist der weitere Wegverlauf
kilometerweit zu verfolgen. Unter dem kahlen Steilhang bestimmen wieder die
weiten Weizenfelder das Bild.
Vorbei an der modern gefaßten
Pilgerquelle mit Rastplatz Fuente del Piojo nähere ich mich dem großen Fluß
Pisuerga, dem Grenzfluß zwischen den Provinzen Burgos und Palencia. Links vor
der Brücke steht die ehemalige Eremita de San Nicolas, ein ehemaliges
Pilgerhospiz. Die im 13. Jahrhundert erbaute romanische Kirche wurde vor einigen
Jahren von italienischen Jakobsbrüdern restauriert und wird seitdem als
Pilgerherberge betreut. Der derzeitige Hospitalero, ein sympathischer junger
Mann, hat über seine Pilgerreise ein Buch geschrieben, das hier zum Blättern
ausliegt und auch von mir mit viel Respekt betrachtet wird, auch wenn ich kein
Wort von dem italienischen Text verstehe.
Um den großen Tisch
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