Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
unter den
romanischen Kapitalen ist eine bunte Gesellschaft versammelt. Ein junger Mann
aus Peru, der die Attribute seiner indianischen Abstammung trägt: langer
schwarzer Zopf, handgewebtes buntes Hemd, Silberschmuck. Er läuft mit seiner
deutschen Freundin nach Santiago. Er erzählt, daß er täglich zehn Minuten
innehält, um von der Mutter Erde Energie zu beziehen. Dies findet eine junge
Amerikanerin very lovely. Sie gehört zu einer kleinen Gruppe aus den Niederlanden, drei Damen und ein
Herr, die immerhin aus Moissac den Weg hierher gefunden haben. Wir werden mit
Kaffee und Kuchen bewirtet. Die Stimmung ist fröhlich und herzlich. Ich genieße
die Gesellschaft dieser Menschen. Uns verbinden die gleiche Erfahrungen, die
uns ermöglichen, das Unbeschreibliche nicht beschreiben zu müssen und trotzdem
darüber sprechen zu können.
Ich schreite über die mittelalterliche
Brücke. Am jenseitigen Ufer begrüßt mich ein mit Pilgermuschel und Wappen reich
verzierter Grenzstein: „Provincia de
Palencia“. Bald habe ich es geschafft: Es sind nur noch 430
Kilometer bis Santiago!
Ich merke nichts davon, daß ich die
Provinz gewechselt habe: Es ist dasselbe flache Getreideland wie vorher. Die
Tierra de Campos, wie dieses Land heißt, hat schon den Römern als Kornkammer
gedient. Die Dörfer sind armselig, schattenlos, von dem gleißenden Sonnenlicht
wie ausgelaugt. Kein Wunder, wenn die Menschen wegziehen und manche Häuser dem
Verfall überlassen. Viele der Bauten bestehen aus demselben roten Lehm wie der
Boden, auf dem sie stehen. Wenn so ein Lehmbau nicht bewohnt oder ständig
benutzt und gepflegt wird, dauert es nicht lange, bis die Wände wieder zu Staub
zerfallen: Recycling durch Wind und Wetter.
Auf einem staubigen Feldweg erreiche
ich den über zweihundert Jahre alten Canal de Castilla, der die Flüsse Pisuerga
und Carrión miteinander verbindet. Der auf weite Strecken hoch über dem Gelände
fließende Kanal ist in dreifacher Hinsicht segensreich gewesen: Er diente der
Bewässerung des trockenen Landes, ermöglichte den Wassertransport der Produkte
und an einigen Stellen hat man mit dem Wasser sogar Getreidemühlen betrieben.
Trotz seines hohen Alters wird der Kanal heute noch für die Bewässerung der
Umgebung genutzt, wie dies die üppig grünen Rüben- und Maisfelder bezeugen.
Auf dem schmalen Steg über einer
Schleuse überquere ich den Kanal und damit bin ich in Frómista angekommen. Der
Name wird von dem römischen Wort für Getreide, frumentum, abgeleitet. Die baumlose Unendlichkeit der
Weizenfelder hat hier eine fast zweitausend Jahre alte Tradition. Aymeric lobt
im 12. Jahrhundert in seinem Pilgerführer den Reichtum der Tierra de Campos und
erwähnt das Fehlen von Wäldern. Als Domenico Laffi vor dreihundert Jahren hier
gewesen ist, war das Land durch Heuschrecken verwüstet und es herrschte große
Hungersnot. Es war hier schon immer so, und wird noch lange so bleiben: Die
Frage, Not oder Reichtum, wird von der Weizenernte beantwortet.
Die Herberge ist wieder voll. Der
Anteil der spanischen Pilger wird von Tag zu Tag größer. Die zahlreichen
Radfahrer erhalten nur mit Vorbehalt ein Bett, Fußpilger werden bevorzugt
beherbergt. Wer ein Fußpilger ist, läßt sich auch nicht mehr so eindeutig feststellen.
Ich beobachte, wie eine Gruppe von Pilgern mit einem Bus ankommt und in der
Herberge Quartier nimmt. Um das Gesicht zu wahren, wird das Fahrzeug
zweihundert Meter weiter geparkt.
Obwohl Frómista größer ist als die
Dörfer der Umgebung, viel lebhafter ist es deswegen noch lange nicht. Auf dem
kleinen Platz, wo das Rathaus und eine Bar steht, nehme ich einen Kaffee. Es
ist kalt geworden, höchstens 12 °C, ich muß mich dick anziehen, um nicht zu
frieren. Auf dem Dach des Rathauses ist ein Lautsprecher montiert, der jede
Viertelstunde ein Glockenspiel vom Band ertönen läßt, die ersten acht Takte des
„Ave Maria“ von Gounod, aber falsch, es tut mir jedesmal weh. Eine
angeberische, fragwürdige Attraktion.
Ich besuche die größte Sehenswürdigkeit
der Stadt, die wunderschöne romanische Kirche San Martín. Manche meinen, sie
wäre zu schön: Bei der Restaurierung vor hundert Jahren wurde des Gutes zuviel
getan. Ich bin nicht dieser Meinung. Der aus dem 11. Jahrhundert stammende
prächtige dreischiffige Bau ist überaus stilecht hergerichtet worden.
Besonders großes Vergnügen bereitet mir
die Betrachtung der figürlichen Ausschmückungen der Kapitelle sowie die
hunderte von
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