Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
herumtummeln, die gar keine richtigen Pilger sind, da sie
nicht dem gelben Pfeil der Wegmarkierung folgen, sondern aus Bequemlichkeit oft
die Landstraße zum Radeln benutzen. Er ist stolz darauf, überall den Pfeilen zu
folgen, auch wenn sie für Fußpilger gedacht sind. Auf. den schwierigeren
Passagen möchte er lieber sein Rad schieben oder gar auf dem Rücken tragen,
aber ein richtiger Pilger verläßt den richtigen Weg nie!
Ich möchte ihn nicht enttäuschen und
ihm sagen, daß der „richtige“, also der historische Weg, meistens die
Landstraße ist und nicht der, den man später für Wanderer angelegt hat. Es ist
immer eine Freude, etwas Richtiges zu verrichten, und ich möchte ihm diese
Freude nicht nehmen.
Am Nachmittag mache ich einen kleinen
Rundgang in der Stadt, wobei ich die Kirche Santa Maria del Camino und die
Kirche Santiago besuche. Beide Gotteshäuser sind mit romanischen Plastiken
reich geschmückt. Leider werde ich von mehreren heftigen Regenschauern
durchnäßt, und so bleibt der Kunstgenuß gedämpft.
Ich gehe in eine Bar, wo ich die Pilger
aus Holland antreffe, die ich gestern mittag beim Kaffee und Kuchen
kennengelernt habe. Eine interessante Gruppe aus interessanten Menschen. Jaap
ist Anfang fünfzig, genau wie zwei der Damen: Anna, eine Amerikanerin, und
Sandy, eine Engländerin, die beide in Holland leben. Die Frau von Jaap ist
kürzlich nach langer Krankheit verstorben. Die Pilgerreise von Moissac nach
Santiago mit den besten Freundinnen der Verstorbenen ist ein würdiger Abschied
von dem geliebten Menschen.
Wir stehen an der Theke, trinken
unseren Rotwein und ich genieße, wie schon gestern, die Gesellschaft von
Gleichgesinnten. Wir brauchen keine zehn Minuten und wir diskutieren die großen
Fragen über Leben und Tod, Trauer und Freude, Stärke und Schwäche, Raum und
Zeit. Anna mit ihren lustigen blauen Augen und mit ihren ins Grau neigenden
blonden Haaren, die sie in einem langen dicken Zopf trägt, ist eine wahre
Augenweide. Sie ist Künstlerin und wenn sie nicht überschwenglich darüber
spricht, wie herrlich und wunderbar es ist, auf diesem Weg voran zu schreiten,
dann macht sie Zeichnungen in ein Skizzenbuch. Später gesellt sich auch mein
Zimmerkollege zu uns. Wir setzen uns in dem hinteren Gastraum zum Abendbrot
hin, und da es draußen lange regnet, bleiben wir lange drin.
Auf dem Rückweg in die Herberge, als meine
Schritte auf den regennassen stillen dunklen Straßen hallen und ich über den
schönen Abend Bilanz ziehe, frage ich mich, welche Welt, welches Leben das
wahre ist: Das Leben des Regens und der Sonne oder die Welt der Tagesschau und
Einkommensteuererklärung. Eine eindeutige Antwort ist schwer zu finden. Ich
wünschte, daß in meinem Leben diese sich scheinbar widersprechenden Komponenten
eine einigermaßen harmonische Einheit bilden mögen.
Sonntag, am 29. Juni
Von Carrión de los Condes nach Calzadilla de la
Cueza
Der heutige Weg
verläuft, wie mit einem Lineal gezogen, auf der Trasse einer ehemaligen
Römerstraße, von der noch einige Teile des Originalbelages vorhanden sein
sollen. Davon merke ich wenig. Ob alt oder neu, die Oberfläche der Piste
besteht aus denselben runden faustgroßen Kieselsteinen, die auch den Acker der
Umgebung bedecken. Obwohl festgestampft, ergeben die Steine einen unebenen Weg,
den zu laufen ich als unangenehm empfinde.
Die Landschaft ist weiterhin eben,
konturlos, grenzenlos. Kein ferner Baum, der beim Laufen näher kommt, kein
Hügel, den man besteigt, gibt mir das Gefühl, daß ich vorankomme. Ich laufe wie
auf einem Laufband, das auf eine Zeit eingestellt ist: Wenn ich flotte Schritte
mache, dauert es noch vier Stunden, dann habe ich es geschafft. Nur der Blick
auf die Uhr, sonst nichts, zeigt es an, wo ich mich befinde.
Wenn ich bedenke, daß hier im Sommer
normalerweise tropische Hitze herrscht, über die unzählige Horrorgeschichten
weitererzählt werden, kann ich mich nicht genug über mein Glück mit dem Wetter
freuen. Es ist eher zu kühl als zu warm, das Laufen ist eine relativ leichte
Routinearbeit. Links, rechts, links, rechts... Ein selbst gedichtetes monotones
Arbeitslied mit Hunderten von Wiederholungen treibt mich voran und bald
erblicke ich den allein stehenden Turm, der vor Calzadilla de la Cueza steht.
Das Dorf selbst liegt, wie so oft auf der Tierra del Campos, in einer Senke.
Calzadilla de la Cueza ist trotz seines
schön klingenden Namens ein erbärmliches Nest mit einer einzigen kurzen
Weitere Kostenlose Bücher