Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Straße.
Zwei halb zerfallene Kirchen, eine Bar und eine sehr einfache Herberge ergänzen
das Bild. Die kleinen Schlafräume haben keine Einrichtung, nur einige
unbezogene Schaumgummimatrazen liegen, wie hingeworfen, auf den gesplitterten
staubigen Bodendielen. Unter der Treppe hat sich ein zahnloser alter Mann, ein
Penner mit seinem großen stinkenden Hund und zahlreichen Plastiktüten häuslich
eingerichtet.
Eigentlich müßte ich weiterlaufen, aber
bis zu der nächsten guten Herberge sind es noch weitere zwanzig Kilometer. So
bleibe ich, wie auch meine Pilgerfreunde aus Holland.
Ich mache meine Eintragung in das
Gästebuch. In das Gästebuch zu schreiben, darin zu blättern und zu lesen, ist
mir eine tägliche vergnügliche Routine geworden. Kaum zu glauben, aber ich
finde immer noch an mich gerichtete Grüße von Palma, Horst und Dominik, wenn
auch immer seltener. Andere Pilger beschreiben die Hitze und den Wassermangel,
den sie auf dem Weg hierher erleiden mußten. Da, schau, hier steht etwas
ungarisch geschrieben! Eine seltene Gelegenheit, meine Muttersprache benutzen
zu können. Ich lese:
„ Wir sind die ersten, die in dieses Buch ungarisch schreiben!“
Gut, denke ich, keine große Leistung,
aber Ungarn ist ein kleines Land und auch das Eichhörnchen ernährt sich mühsam.
Weiter:
„ Wir kamen aus Carrión de los Condes, ohne Wasser, so daß wir fast
verdurstet sind.“
Moment mal! Man kann in jeder
Beschreibung nachlesen, daß auf dieser Strecke kein Wasser zu finden ist! Sogar
in der Herberge wurde uns heute früh geraten, genügend Wasser mitzunehmen!
„Da hier kein
Brot zu kaufen ist, haben wir im Garten hinter dem Haus Feuer gemacht und uns
darauf geklauten Mais geröstet.“
Und dann der Schlußsatz:
„ Wir werden auch in das Gästebuch in Santiago schreiben!“
Kurz darunter sind, allerdings nicht
mehr ungarisch, die Zeilen zu lesen: „ Wir haben kein Wasser, weil die zwei Ungarn den Wasserhahn kaputtgedreht
haben!“
Ich habe mit dem speziellen ungarischen
Nationalstolz schon immer meine Schwierigkeiten gehabt, und wie die Jahre
vergehen, werden diese Schwierigkeiten auch nicht geringer.
Montag, am 30. Juni
Von Calzadilla de la Cueza nach Sahagún
Heute ist mein Geburtstag:
Ich bin 59 geworden. Als der Morgen graut, werde ich von Anna und Jaap
beglückwünscht. Bald fängt mein Handy an zu klingeln: Rita, sowie Freunde und
Verwandte gratulieren und fragen, wie es mir geht.
Mir geht es gut. Ich fühle mich
körperlich und seelisch gestärkt. Meine Extremitäten verlangen von mir keine
besondere Aufmerksamkeit oder Pflege mehr, sie tun ihre Pflichten ohne
aufzumucken. Die Frage, ob ich Santiago de Compostela erreiche, stellt sich
nicht mehr. Ich verspüre, nicht nur in dieser Frage, eine große Zuversicht und
Gelassenheit. „Es wird schon gut gehen!“ ist eine gewisse Grundeinstellung
geworden. Dies empfinde ich als mein größtes Geburtstagsgeschenk.
Dabei möchte ich nicht verschweigen,
daß die negativen Zeichen, die meine Ehe betreffen und die mir von mehreren
Seiten indirekt nachgesendet werden, mir viel Schmerzen und Sorgen bereiten.
Meine Schwiegermutter rät mir dringend, mich zu beeilen und nach Hause zu
kommen. Als ich sie nach dem Grund frage, bekomme ich eine allgemeine Antwort:
„Du fehlst uns halt!“ Was soll ich bloß machen? Wenn Rita mir gegenüber einfach
abstreitet, daß die Entfremdung zwischen uns überhaupt existiert, und mich zum
Verrückten erklärt, dann muß dies zwar nicht der Wahrheit entsprechen, aber mir
ist die Handlungsfreiheit genommen. Ich kann nicht nach Hause fahren und ihr
sagen, daß ich das wichtigste Unternehmen meines Lebens kurz vor dem Ziel
abgebrochen habe, weil ich unsere Ehe retten möchte, die ihrer Aussage nach gar
nicht gefährdet ist! Dabei sind die Störungen für mich und für alle, die uns
kennen und lieben, mit den Händen zu greifen! Eine verdammt unangenehme
Geschichte!
Ich merke, vielleicht als Folge meiner
Sorgen, daß mein Interesse für den Weg, wenn auch nicht schwindet, so doch
allmählich geringer wird. Die Strecken der letzten Tage, die Dörfer und die
Ereignisse vermischen sich. Ich fange an, die Tage zu zählen, die ich bis zu
meiner Ankunft in Santiago noch brauche. Es liegen noch etwa zwanzig
Tagesmärsche vor mir.
Auf den ersten Kilometern benutze ich
den Rand der Landstraße. Dann folgt ein Feldweg. Nachts hat es geregnet; die
Spur, die nicht mehr so steinig ist wie gestern, ist etwas schlammig
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