Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
erschöpft von dem mit Besichtigungen überladenen langen, heißen
Tag, bei einer Flasche Rioja.
Wo sind wir heute überall gewesen? Wie
war das doch? Wir haben in Santo Domingo de la Calzada übernachtet, dann haben
wir noch vor Burgos eine Stadt angeschaut... Oder war es nach Burgos?
Jedenfalls gab es da eine Kirche mit Störchen auf dem Turm. Und natürlich die
Kathedrale von Burgos, ja, die war schon überwältigend! Wir waren dort leider
mittags angekommen, sie haben uns die Tür gerade vor unserer Nase zugemacht.
Wir hätten bis 16 Uhr auf die Besichtigung warten müssen; so sind wir dann
weitergefahren.
Wir saßen da und hatten große
Schwierigkeiten, uns daran zu erinnern, was wir einige Stunden vorher gesehen
hatten. Wir waren von dieser Erkenntnis etwas überrascht und fühlten uns
irgendwie ertappt.
Ist das der richtige Weg, auf dem ich
meine traumatischen Erinnerungen zu ordnen oder sogar zu bewältigen hoffte?
Gibt es für mich die Möglichkeit, auf diesem Weg Gott zu finden, dem ich mit
dieser Reise meine Bringschulden begleichen wollte? Wenn das nicht der Fall ist:
Was wollen wir überhaupt in Santiago de Compostela?
Rita hatte die Lage am besten erfaßt,
als sie sagte: „Unsere Reise hat mit deinem Anliegen zu wenig zu tun. Ich bin
zwar nicht religiös, aber was wir hier treiben, das halte ich für
Gotteslästerung. Ich möchte sowas weder mir noch dem Heiligen Jakobus antun!“
Wir nahmen uns vor, die Reise abzubrechen und so nicht nach Santiago zu fahren.
Am nächsten Morgen haben wir uns von
dem Jakobsweg verabschiedet. Am Stadtrand von Sahagún steht auf einem staubigen
Hügel die Kirche La Peregrina, die trotz ihrer ruinösen Bausubstanz eines der schönsten Beispiele der mit
arabischen Ornamenten geschmückten romanischen Kirchenbaukunst ist. Wir
besuchten diese Kirche, es war wie ein Abschiedsritual. Außer uns waren nur zwei
Besucher dagewesen, zwei junge Männer mit Rucksack, zu Fuß unterwegs nach
Santiago de Compostela. Ich verspürte Lust, es ihnen gleichzutun, aber es war
nur ein flüchtiger Gedanke, meine Realität, die begrenzte Urlaubszeit, ließen
solche spontanen Ideen nicht verwirklichen. Aber wer weiß? Vielleicht ein
andermal?
Ich hatte den unwiderstehlichen Wunsch,
wiederzukommen. Ich wollte, wie diese zwei, mich in die ursprüngliche, uns
heute anachronistisch erscheinende Welt des Weges begeben. Wenn ich Gott finden
will, dachte ich, muß ich ihn bei dem Ursprung der physischen und spirituellen
Welt suchen und mir dafür viel mehr Zeit nehmen als diesmal.
Ich wünschte, mir ein Zeichen zu
setzen, etwas hier zu lassen, wie ein Versprechen, das hier auf mich wartet,
bis ich wiederkomme. Ich habe meine Tasche durchsucht, und das Erste, was mir
in Finger fiel, war ein Fünfmarkstück. Ein Geldstück ist nicht unbedingt
geeignet, mich hierher zurück zu führen, aber ich dachte, es ist völlig
unwichtig, welchen Gegenstand ich nehme. So versteckte ich das Metallstück an
der Rückwand der Kirche in einem Mauerriß. Ob ich es je abholen würde?
Zwei Jahre ist das jetzt her; jetzt bin
ich hier. Viereinhalb Monate und zweitausendsechshundert lange Kilometer bin
ich über Berg und Tal, über Stock und Stein gelaufen und ich werde jetzt mein
Versprechen einlösen!
Natürlich mache ich mir Gedanken, ob
ich die Stelle finde, wo das Geldstück versteckt ist. Steht noch das
Mauerstück, oder wird die Kirche gerade renoviert und ich komme an die Stelle
gar nicht ran?
Ich lasse mir viel Zeit. Ohne Hast
besteige ich den Hügel und umrunde voll Neugier die Kirche. Zögerlich gehe ich
zu dem Versteck und als ich davor stehe, ist alles ganz einfach. Ich brauche es
nicht zu suchen, alles ist so, als ob ich erst gestern hier gewesen wäre! Ich
brauche nur meine Hand auszustrecken, und schon habe ich das oxidierte,
glanzlos gewordene Stück! Ich habe es tatsächlich geschafft! Ich kann es nicht
fassen!
Jetzt muß ich jemanden haben, dem ich
meine Freude mitteilen kann, und ich habe Glück, auf dem Marktplatz sitzen fast
alle meine Pilgerfreunde beisammen: Anna, Sandy, Paloma, Karen, Jaap und Marc.
Ich zeige ihnen das Geldstück und erzähle die Geschichte. Sie alle freuen sich
mit mir und wir begießen diesen schönen Geburtstag. Sogar ein Geschenk bekomme
ich: Anna schenkt mir eine ihrer Zeichnungen.
Dienstag, am 1. Juli
Von Sahagún nach El Burgo Ranero
Hinter den letzten Häusern von Sahagún fließt der Fluß Cea, der von einer
neunhundert Jahre alten Steinbrücke
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