Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
geworden.
Der Himmel ist bedeckt, die Luft ist kühl. Das Gelände ist heute auch nicht
mehr so flach wie es in den vergangenen Tagen gewesen ist. Sanfte Wellen
markieren die Entfernungen und geben mir einen Maßstab, an dem ich mein
Vorankommen messen kann.
Die Dörfer sind weiterhin klein und
ärmlich; bei Betrachtung der Lehmhäuser fällt es mir schwer, mir vorzustellen,
daß hier vor fünfhundert Jahren zahlreiche berühmte Klöster und Hospize die
Pilger erwartet haben. Jetzt werde ich nur von einigen schläfrigen Hunden
lustlos angeknurrt.
Der rote Lehm ist allgegenwärtig: rot
ist der Pilgerpfad, rot ist der Acker, rot sind die Lehmhäuser und die
Begrenzungsmauern. In Moratinos, auch ein Lehmdorf, ist sogar ein Teil der
Kirche aus rotem Lehmziegel gemauert.
Wenig später, in San Nicolás del Real
Camino, werde ich von Yvette und Jean-Claude eingeholt. Am Dorfende ist ein Rastplatz,
wo wir uns hinsetzen. Wie schon früher, bewundere ich die überaus künstlerisch
gestalteten Pilgerstäbe, die sie mit sich führen. Es sind wahre Meisterwerke
der Handwerkerkunst, reich verziert, beschnitzt und beschlagen, sie sind nicht
zu schwer und liegen gut in der Hand. Sie erzählen mir, daß sie Mitglieder des Club européen des compagnons du bâton sind, eine Vereinigung, die sich der Erforschung und Pflege der Geschichte und
Tradition des Stockwesens widmet. „Gibt es denn sowas?“ denke ich, aber sie
geben mir einige Stichwörter, die mich nachdenklich stimmen. Der Stock ist mit
Sicherheit eines der ältesten Werkzeuge und Waffen, als Zepter oder
Marschallstab ist er ein Machtsymbol, mit Silberknauf ist er ein Teil der
Bekleidung, als Krücke ist er eine Stütze... Ich selbst habe sogar zwei Stöcke
dabei! Anna und Sandy kommen vorbei, sie bleiben kurz stehen und singen mir ein
Geburtstagsständchen, bevor sie weiterlaufen. Lieb sind sie! Bald überquert der
Feldweg die Provinzgrenze zwischen Palencia und Kastilien-Leon. Vorbei an der
kleinen Ziegelsteinkapelle Virgen del Puente erreiche ich mein Ziel Sahagún.
Die kleine Stadt wird in den frühen
Pilgerberichten als eine mit allen Gütern reich versehene wichtige Station des
Weges beschrieben. Von der alten Herrlichkeit sind nur einige Ziegelbauten, wie
die Kirchen San Tirso und San Lorenzo, übriggeblieben, die allerdings zu den
wichtigsten Werken der spanische Mudejarbaukunst gehören. Dieser wunderbare
Baustil vereinigt die Elemente der romanischen und der arabischen Baukunst.
Auch die Pilgerherberge, eine der
besten auf dem spanischen Pilgerweg, ist in den Mauern einer alten Kirche
untergebracht. Die Iglesia de la Trinidad wurde ausgeweidet und als
Gemeindeeinrichtung bestens hergerichtet. In das ehemalige Kirchenschiff wurde
eine Zwischendecke eingezogen. Unten ist ein großer Vortragssaal mit Bühne,
darüber die Herberge mit Küche und sanitären Einrichtungen. Der große Raum ist
mit Zwischenwänden aufgeteilt, die eine intimere Atmosphäre ermöglichen.
Nachdem ich mich stadtfein gemacht
habe, gehe ich, mein Fünfmarkstück zu holen. Daß dies ausgerechnet an meinem
Geburtstag geschieht, nehme ich als eine besondere Gnade Gottes.
Als ich nach der wunderbaren Genesung
von Rita gelobte, nach Santiago de Compostela zu pilgern, habe ich noch keine
konkreten Vorstellungen davon gehabt, wie ich diese Pilgerreise mache: ob mit
Auto oder mit dem Fahrrad, allein oder in Gesellschaft von anderen? Den ganzen
Weg zu Fuß zu bewältigen, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen.
Ein Jahr später habe ich den Wunsch
verspürt, die Reise mit Rita gemeinsam zu machen. Sie ist in der Zwischenzeit
stärker geworden; sie konnte schon reisen, aber radfahren oder größere Strecken
zu laufen, das kam noch immer nicht in Frage. So sind wir mit dem Auto
losgefahren.
In meinem Reisegepäck befand sich eines
dieser Bücher, die den Jakobsweg hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, als
intellektuellen Lehrpfad der Kunst und Architektur betrachten und die
spirituelle Dimension des Weges zu wenig beachten. Es war ein heißer Sommer und
weil wir meinten, um Pilger zu werden, müssen wir jede Kirche und jede Kapelle
besuchen, kamen wir langsam voran.
Wir hofften, daß unsere Reise sich mit
der Zeit von einer gewöhnlichen Studienreise unterscheiden würde, aber wie die
Tage vergingen, mußten wir feststellen, daß außer einer die romanische Kunst
betreffenden Sättigung keine anderen Wirkungen eingetreten waren.
Wir kamen damals immerhin bis Sahagún
und saßen hier,
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