Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
die Sommermonate.
Ich finde die Herberge in der Altstadt.
Mein bei der Aufnahme vorgelegter langer Pilgerpaß löst bei den anwesenden
anderen Pilgern anerkennendes Staunen aus: Viele von ihnen wollen die Reise
erst von hier starten.
Es ist ein Massenquartier, das man in
der Turnhalle einer Schule eingerichtet hat. In dem großen leeren Raum, der
auch eine leere Bühne hat, liegen einige Dutzend Gymnastikmatten an der Wand
aufgeschichtet, die man zum Liegen nehmen kann. Ich bekomme gerade noch eine,
viele andere müssen, wenn sie keine eigene Liegematte mithaben, auf dem blanken
Fußboden übernachten. Jeder sucht sich ohne ein erkennbares System einen Platz.
Ich plaziere meine Matte auf dem Rand der Bühne. So habe ich einen gewissen
Überblick und mindestens an einer Seite keinen Nachbarn, der sich nachts in der
Enge auf mich rollen könnte.
Ich laufe in der Altstadt ziellos kreuz
und quer; eine gute Methode, von der Atmosphäre einer fremden Stadt etwas
mitzubekommen. Dabei treffe ich Marc und Paloma, ihn wahrscheinlich zum
Letztenmal. Sein Urlaub ist abgelaufen, in drei Tagen muß er in seinem Job in
der Schweiz, als Bankmensch, wieder das Geld vermehren. Ein trauriges
Schicksal!
Ich bleibe eine Weile mit den Beiden.
Wir trinken einen guten Wein und ich esse ganze Berge von der fettigen, aber
schmackhaften Blutwurst Morcilla. Anderswo ist das eine richtige schwarze Wurst, meistens mit Reis oder Hirse
vermischt, hier dagegen ein Teller voll pure Füllung.
Abends ruft mich Rita an und sagt, daß
Werner eine Woche früher als geplant Urlaub nehmen kann, und so will er doch
noch einige Tage mit mir laufen. Ich sage ihr, daß auch das zu spät ist. Ich
komme gut voran, und für die letzten ein-zwei Tage, die Werner noch mitlaufen
könnte, würde sich die lange Reise kaum lohnen. Da sagt Rita: „Werner ist ein
so guter Freund von uns, daß du auf ihn schon einige Tage warten könntest!“
Ich bin wie erschlagen! Seit fünf
Monaten bin ich nicht mehr zu Hause gewesen und bei aller Freude, die mir das
Laufen bedeutet, fange ich doch langsam an, die restlichen Tage zu zählen. Ich
hätte gehofft, daß sie ähnlich empfindet. Jetzt habe ich das Gefühl, sie möchte
meine Rückkehr hinauszögern. Ich denke, ich muß auf der Stelle sterben!
Freitag, am 4. Juli
In Leon_
„Auf der Stelle“ bin ich nicht
gestorben; erstin der Nacht war es fast so weit. Ob es
von der fetten Morcilla oder als Folge des gestrigen Telefongesprächs kam, ich
wurde jedenfalls von einer schlimmen Übelkeit wach gehalten. Ich mußte
wiederholt die Halle verlassen, um mich zu übergeben. Da der Fußboden
flächendeckend mit schlafenden Pilgern belegt war, glich mein Lauf, zumal im
Dunkeln, einem Eierlauf.
Am Morgen bin ich wie gerädert. Mir tun
wieder die Nieren wieder weh. Auch die Blase am Fuß, die ich mir noch nach
Burgos geholt habe, hat sich entzündet. Das schlimmste aber ist meine tiefe
Ratlosigkeit, eine lähmende Depression.
Ich verlasse die Herberge und gehe in
ein Café. Was soll ich bloß tun? Soll ich weiterlaufen oder sofort nach Hause
fahren? Ich weiß es nicht! Auch nach anderthalb Stunden weiß ich es nicht!
Ich nehme ein Hotelzimmer, bade mich
und lege mich ins Bett. Es dauert nur Minuten bis ich einschlafe.
Es ist schon spät am Nachmittag, als
ich aufwache. Gut geht es mir noch immer nicht, aber ich weiß, daß ich morgen
weiterlaufe und meine Reise beenden möchte.
Ich besuche die Kathedrale und bin ich
wieder von meiner eigenen Ahnungslosigkeit überrascht. Sicher wußte ich, daß
die Kathedrale von León eine der berühmtesten gotischen Kirchen in Spanien ist,
aber ich meinte, nach der in Burgos komme nichts mehr, was mich ähnlich
begeistern könnte. Weit gefehlt! Schon die dreigeteilte Westfassade ist
bewundernswert, aber der riesige dreischiffige, im Bereich des Querhauses
fünfschiffig erweiterte Innenraum mit den bunten Glasfenstern und dem
Renaissance-Lettner sind einfach atemberaubend! Ich lasse mir viel Zeit und
genieße die erhabene Stimmung, die dieser sakralen Halle innewohnt. Jede
Chorkapelle, jeder Nebenaltar und die zahlreichen Grabmale, die oft die
Kreuzigungsszene zeigen, sind sehenswerte Kunstschätze, deren Großartigkeit
mich überwältigt. Schon dieses Erlebnis, diesen steingewordenen Triumph des
menschlichen Geistes sehen zu dürfen, hätte meine Mühe, hierher zu pilgern,
belohnt!
Ich bin von den Eindrücken, die ich aus
der Kathedrale mitbringe, noch so voll, daß ich die noch
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