Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
ältere und nicht
weniger bedeutende Kirche San Isidoro nur mehr aus Pflichtgefühl besuche. Nur
der älteste und wohl schönste Teil des Baukomplexes, das Panteón, die
Begräbnisstätte der Könige von Kastilien und León, begeistert mich restlos. Die
neun Felder der niedrigen Kreuzgewölbe sind mit herrlichen bunten romanischen
Fresken aus dem 12. Jahrhundert dekoriert. Die biblischen Szenen aus dem Neuen
Testament sind durch lebensfrohe Bilder aus dem bäuerlichen Leben ergänzt:
Hirten mit ihren Tieren, Monatsbilder mit den fälligen Feldarbeiten und immer
wieder wunderschöne Pflanzenornamente. Ich liebe diese naiven zweidimensionalen
Anfänge der europäischen Malerei.
Ich treffe Jaap. Auch sie haben einen
Ruhetag genommen. Das freut mich, so habe ich auch morgen noch vertraute
Gesichter um mich.
Samstag, am 5. Juli
Von León nach Villadangos del Páramo
Die helle Sonne lacht
mir vom tintenblauen Himmel ins Gesicht. Oder lacht sie mich bloß aus? Vorbei
an dem platoresken Hostal San Marcos, dem größten, schönsten und besterhaltenen
Pilgerhospital von ehemals siebzehn solcher Einrichtungen in der Stadt,
verlasse ich León. Die ersten Kilometer führen durch Vororte mit kleineren
Betrieben, Bahnanlagen. Es ist nicht das ideale Wandergebiet. Auch im weiteren
Verlauf benutzt der Weg die stark befahrene Landstraße, oder einen Feldweg, der
unmittelbar neben dieser Straße liegt.
Die Landschaft hat sich nach León
verändert. Das unendliche flache Weizenmeer der Meseta hat doch noch sein Ende
gefunden. Sanfte Hügel und immer mehr Bäume bringen mir die Gewißheit, daß ich
mich doch noch vorwärts bewege.
Hinter Virgen del Camino ist die Straße
N 120 wie eine Autobahn ausgebaut. Die Wegmarkierung auf der Leitplanke zeigt,
daß ich auf dem richtigen Weg bin, wenn ich die Standspur nehme. Kurz danach
erreiche ich eine Kreuzung zweier Autobahnen, ein richtiges Kleeblatt. Ich
bleibe stehen. „Nein“, denke ich, „das kann nicht sein, daß der Pilgerpfad und
das Autobahnkreuz identisch sind“. Es besteht aber kein Zweifel: Die gelben
Pfeile zeigen, daß ich hier richtig bin. Ein merkwürdiges Gefühl! Man stelle
sich das mal in Deutschland vor, wenn dort ein Mensch mit Rucksack über ein
Autobahnkreuz laufen würde!
Später begegne ich einer jungen Frau,
einer Französin, die sich schon auf dem Rückweg befindet. Sie gehört zu der
seltenen Spezies der Pilger, die den unendlich langen Weg nicht nur hin,
sondern auch zurück zu Fuß bewältigen. Seit Burgos habe ich schon etwa ein
halbes Dutzend solcher Verrückten getroffen.
Sind denn diese Menschen tatsächlich
verrückt? Plötzlich erscheint mir die Option, zurück zu laufen, als ein Ausweg,
das drohende Zusammenstürzen meines Alltagslebens danach hinaus zu zögern.
Allerdings: Das Schicksal des „fliegenden Holländers“ als ständige Daseinsform
lockt mich nicht.
Das Sterben auf dem Weg wäre eine
bessere Lösung. Ein Steinkreuz mit Pilgermuschel und Datum... So könnten alle
meine Wege in Frieden ein Ende finden.
Erst aber trinke ich lieber einen
Kaffee und esse ich ein Bocadillo mit Tortilla, ein belegtes Brötchen mit
Rührei, dazu. Mit leerem Bauch machen auch die schönsten Todessehnsüchte keine
richtige Freude. Die Truckerkneipe ist gut besucht, auch viele einheimische
Männer verbringen hier die Zeit mit Dominospielen. Die wichtigste Regel dieses
Spiels scheint zu sein, die Steine mit voller Wucht auf die Tischplatte zu knallen
und dabei einen markerschütternden Todesschrei auszustoßen.
Das Refugio in Villadangos del Páramo
ist die umgebaute ehemalige Dorfschule am Ortseingang. Es ist eine gute
Herberge mit großem Aufenthaltsraum, Küche, abgetrennten Schlafkabinen und
einem Rasenstreifen hinter dem Haus, wo man, vom Lärm der Durchgangsstraße
abgeschirmt, sich von der Sonne wärmen lassen kann. Ich kann die Sonnenwärme
gut ertragen, trotz des wolkenlosen Himmels ist es eher kühl.
Bald ist auch Jaap mit den Damen da
sowie eine Holländische Pilgerin, Irene, die Mitte März in Eindhoven
losgegangen ist. Eine stolze Leistung.
Das Dorf Villadangos besitzt eine
schöne Pfarrkirche, die dem Heiligen Jakob gewidmet ist. Etwa zehn Frauen und
junge Mädchen sind dabei, den Kirchenraum in einer großen Reinemach-Aktion für
das bald stattfindende Jakobsfest herzurichten. Sie alle sind sehr freundlich
zu uns, und mit vollem Stolz machen sie uns auf einzelne sehenswerte Details
der Kirche aufmerksam. Und davon gibt es viele!
In
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