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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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Ziel bietet ein Eichenwald mir Schatten für den nötigen
Mittagsschlaf. Ich habe in den letzten Tagen zu wenig Schlaf gehabt.
    Rabanal del Camino wurde von Aymeric
schon im 12. Jahrhundert als Pilgerstation erwähnt. Mehrere Hospize und Kirchen
gaben den Pilgern das seelische und körperliche Rüstzeug, womit sie die
kommenden unwegsamen Berge zu überqueren trachteten. Einige Zeugen dieser
Vergangenheit sind bis heute erhalten, wobei der Betrachter ziemlich scharfe
Augen braucht, um in den teilweise unscheinbaren Gemäuern Zeichen der
ehemaligen Größe zu erblicken.
    Das heutige Straßendorf mit der
unbefestigten Hauptstraße macht eher einen verlassenen, ärmlichen Eindruck. Es
gibt weder einen Laden noch einen Bäcker, bloß eine Bar, wo man die Pilger
nicht verhungern und verdursten läßt. Trotzdem hat der Name Rabanal in
Pilgerkreisen auch heute noch einen guten Klang. Dies verdankt der Ort der
guten Herberge, die von englischen Jakobsfreunden restauriert wurde, die auch
die Einrichtung weiterhin betreuen. Die derzeitigen zwei jungen Hospitaleros,
die Amerikanerin Nancy und der Spanier José, sind herzlich und korrekt, sie
achten sehr genau darauf, daß alles seine Ordnung hat. Dafür wird jede Pilger
von ihnen persönlich begrüßt und betreut, was bei dem Massenbetrieb einer fast
übermenschlichen Leistung gleichkommt. Sie erweisen sich auch als Heiler von
Fußblasen. Die Nachfrage ist groß, die Bedürftigen stehen Schlange vor ihnen.
    Ich bekomme immer noch Grüße von Palma,
Horst und Dominik. Ich bin darüber sehr erfreut, aber auch erstaunt. Ich habe
ja nichts besonderes getan, was mir erklären könnte, warum diese lieben
Menschen sich fast täglich an mich erinnern.
     
     

Dienstag, am 8. Juli
Von Rabanal del Camino nach Molinaseca
    Die Calle Mayor,schon im Ort ein unbefestigter Weg, setzt sich hinter den letzten Häusern als
Fußpfad fort. Der Himmel ist makellos klar, die Luft ist lau und weich. Der Weg
steigt sanft weiter. In dieser Höhe fängt der Ginster am Wegrand erst jetzt an
zu blühen.
    Ich durchquere ein zerfallenes
Straßendorf. Die ehemalige Hauptstraße ist mit Unkraut und Gestrüpp
überwuchert. Ich bin überrascht, als ich entdecke, daß zwei, drei Häuser doch
noch bewohnbar sind, auch wenn ich keinen Menschen antreffe.
    Die romanische Dorfkirche scheint von
weitem noch intakt zu sein; erst beim Näherkommen sehe ich, daß die Tür
zerbrochen auf dem Boden liegt. Vorsichtig betrete ich den Kirchenraum. Eine
einsame Kuh schaut mir verwundert entgegen. Die uralte Kirche wird als Kuhstall
benutzt! Es ist ein trauriger Zerfall nicht nur der Steine, sondern auch der
Sitten!
    Dieses Dorf heißt Foncebadón. Es ist
schwer, sich vorzustellen, daß der Ort schon im 10. Jahrhundert als wichtige
Pilgerstation erwähnt wurde, die damals Hunderten von Menschen Unterkunft und
Pflege gewährte. Sogar ein Kirchenkonzil soll hier veranstaltet worden sein.
Über tausend Jahre hat das Dorf gut überstanden, die letzten zwanzig nicht mehr.
    Hinter Foncebadón steigt der Pfad
weiter, mündet in eine schmale Landstraße, die bald den Paß des Monte Irago
erreicht. Die Paßhöhe ist mit 1504 Meter der höchste Punkt meiner gesamten
Pilgerreise! Dieser an sich unspektakuläre sanfte Bergübergang wurde schon in
den vorrömischen Zeiten rege benutzt und, vermutlich aus rituellen Gründen, mit
einem Steinhaufen gekennzeichnet. Später haben die Römer weitere Steine
zugelegt und so dem Handels- und Reisegott Merkur die Ehre erwiesen. Wie so
viele heidnische Bräuche, so wurde auch dieser von den Christen übernommen.
Millionen von Jakobspilgern haben hier als Zeichen der Freude und Dankbarkeit,
weil sie diesen „Gipfel“ des Weges erreicht hatten, weitere Steine abgelegt und
die Steinmasse auf die heutige Menge von etwa 700 m 3 vergrößert. Der
kleine Hügel ist mit einem schmiedeeisernen Kreuz versehen, das ihm den Namen
gibt: Cruz de Ferro.
    Auch ich möchte diese uralte Tradition
weiterpflegen. Aus diesem Grund habe ich aus Kassel einen kleinen
Basaltsplitter mitgebracht, den ich jetzt im hohen Bogen zu den Millionen
anderer Steine werfe. Dann setze ich mich auf die Holzbank vor der kleinen
Paßkapelle und habe das Gefühl der Ewigkeit: Ich habe immer schon gelebt und
ich werde nie sterben müssen.
    Die schmale Straße verbleibt vorerst in
der Höhe. Autos verirren sich hierher nur selten, nur die vielen Radlerpilger
bedürfen meiner Aufmerksamkeit. Die Fahrbahn ist mit Schneestangen begrenzt.
Vor

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