Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
der Mitte des barocken Retabels ist
der Heilige mit gezogenem Schwert und wehender Fahne als Matamoros dargestellt,
wobei er nicht, wie gewöhnlich, von der Seite gesehen abgebildet ist, sondern
von vorn; er läßt sein weißes Schlachtroß aus dem Altar in die Gemeinde springen!
Er trägt die Kleidung eines spanischen Edelmannes der Barockzeit; auch der
Dreispitz fehlt nicht. Auch hier ist der Heilige weiter oben ein zweites Mal
abgebildet, als fromme Pilger.
Die geschnitzten Blätter der hölzernen
Eingangstür zeigen bunte bewegte Szenen aus dem Gemetzel von Clavijo. Auch hier
reitet Jakobus auf einem weißen Pferd, das über einen kopflosen Gegner springt;
der körperlose, Turban tragende Kopf schaut mich fragend an.
In der Herberge, die sich inzwischen
gefüllt hat, blättere ich das ausliegende Anmeldebuch durch. Neunzig Prozent
der hier übernachtenden Gäste sind Spanier, die meistens erst in León, manche
in Burgos gestartet sind. Die restlichen zehn Prozent kommen aus Roncevalles
oder St-Jean-Pied-de-Port. Wer noch weitere Wege hinter sich hat, ist meistens
ein Ausländer und gehört zu einer Minderheit von höchstens zwei Prozent. Es ist
ein seltener Zufall, daß wir heute in der Herberge eine solche Ansammlung von
Weitgereisten bilden.
Sonntag, am 6. Juli
Von Villadangos del Páramo nach Astorga
Auf den ersten zehn
Kilometern gibt es auch heute keine andere Möglichkeit, als der Nationalstraße
zu folgen. An einer Stelle, wo links von der Fahrbahn ein Feldweg die Straße
begleitet, nütze ich die Möglichkeit, den Asphalt zu verlassen. Die Radspur ist
mit hohem Gras fast zugewachsen, meine Hose wird triefend naß vom Morgentau.
Aber was ist das!? Das ist doch kein Tau, sondern irgendeine stinkende ölige
Substanz, womit der ganze Weg, und jetzt auch ich, beschmiert ist! Ich könnte
vor Wut schreien!
Nach fast drei auf dem Asphaltstreifen
verbrachten Stunden erreiche ich den Ort Puente de Órbigo, wo sich die lange
Pilgerbrücke aus dem 13. Jahrhundert befindet. Hier soll sich 1434 eine
Geschichte abgespielt haben, die für Cervantes „Don Quijote“ die Vorlage
abgegeben haben könnte. Ein Ritter aus León, dessen Name mit Suero de Quiñones
überliefert wird, hatte mit seinen neun Knappen den Zugang zu der Brücke
versperrt und erklärt, daß er den Weg so lange nicht freigeben werde, bis er zu
Ehren seiner Dame dreihundert Ritterkämpfe ausgefochten habe. Da der Mann sich
als unbesiegbar erwies, dauerte es volle dreißig Tage, bis auch der letzte der
dreihundert Kämpfe geschlagen war und alle miteinander nach Santiago de
Compostela ziehen konnten, um sich bei dem Heiligen für den guten Ausgang des
Streits zu bedanken.
Endlich darf ich die Autoroute
verlassen. Ein breites Tal, das von Bewässerungsgräben durchzogen wird, ist
rasch durchschritten. An der anderen Talseite, wo der Weg die Talsohle verläßt,
ist der Boden karg und steinig. Rundes Kiesgeröll, mit gelbem Sand vermischt,
bildet den mageren Grund, auf dem nur Weinreben genügend Nährstoff zu finden
scheinen. Hinter dem Dorf Santibánez de Valdeiglesias — je kleiner das Dorf, um
so länger der Name — steigt der steinige Weg auf eine Anhöhe, wo ich einen
Eichenwald vorfinde. Mensch, wann habe ich das letzte Mal einen Wald gesehen?
Der gut markierte Waldpfad überquert
einige Querrinnen und Hügeln. Am jenseitigen Waldrand öffnet sich ein weites
flaches Grasland, hinter dem ich nach einer Stunde zu der nach Astorga
führenden Landstraße zurückkehre. An dieser Stelle erhebt sich ein weit
sichtbares Steinkreuz. Der Stufensockel des Kreuzes lädt mich, den müden
Wanderer, zu einer kleinen Ruhepause ein. Die Sicht nach Westen ist
überwältigend. Unter mir im Tal liegt, auf einer Erhebung thronend, die Stadt
Astorga, dahinter folgt ein welliges Land, die Maragatería, das am Horizont in
die hohen Berge der Montes de León übergeht.
Ich steige von dem Hügel herunter,
überquere das kleine Flüßchen Tuerto, über das eine zweitausend Jahre alte
römische Brücke führt. Dann folgt ein kurzer, aber sehr steiler Aufstieg in die
Altstadt von Astorga.
Nachdem ich meinen Platz in der
Herberge gesichert habe, gehe ich, die schöne Stadt anzuschauen.
Astorga, das Asturica Augusta der Römer, ist in seiner Zeit eine der
wichtigsten römischen Städte auf der Iberischen Halbinsel gewesen. Die
bedeutende Rolle der römischen Siedlung wurde durch die geographische Lage
begründet: Erstens kreuzten sich hier die Römerstraßen
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