Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
zehn Tagen, als ich bei Frómista gefroren habe, soll es hier geschneit haben.
Im Juni!
Das Dorf Manjarín ist schon vor dreißig
Jahren von seinen letzten Bewohnern verlassen worden, aber vor einigen Jahren
ist Leben in die Ruinen zurückgekehrt. Ein ehemaliger Pilger hat sich hierher,
in die Einsamkeit der Berge, zurückgezogen und mit eigenen Händen eines der
zerfallenen Häuser in eine einfache Herberge verwandelt. Es ist ein
Zwischending zwischen Zeltlager und Bretterbude, daneben ein Tisch mit Bänken
und eine Holztheke. Der fehlende Komfort wird durch die herzliche Atmosphäre
mehr als ersetzt. Tomás, so heißt der Eremit, betrachtet sich als den letzten
Templer, und das nicht ohne Grund: Mit seiner Hospizgründung steht er in der
tausendjährigen guten Tradition des Mönchsordens.
Herr Tomás und die etwa zehn anwesenden
Radler im bunten Radlerdreß begrüßen mich mit großem Hallo. Als ich meinen
Pilgerpaß, inzwischen ein meterlanger Leporello, zum Stempeln vorlege, wird das
Dokument herumgereicht und bestaunt. „Wann bist Du losgegangen? Im Februar?
Alle Achtung!“ Sie rücken zusammen, um mir auf der Holzbank Platz zu machen.
Ich bekomme einen Becher Kaffee in die Hand gedrückt und muß höflichkeitshalber
ein wenig Brot mit Käse essen.
Als ich wieder aufbreche, werde ich von
allen mit Handschlag verabschiedet. Die über der Theke hängende Schiffsglocke
wird angeschlagen und so lange geläutet, bis ich nach etwa zweihundert Metern
aus dem Sichtfeld der Zurückbleibenden gerate. Die Szene entbehrt nicht einer
gewissen Peinlichkeit, aber ich bin trotzdem gerührt. Das liegt wohl sehr nah
beieinander.
Nach einer Stunde verlasse ich die
Landstraße und wechsele auf einen Feldweg. Jetzt geht es richtig steil abwärts:
Auf den nächsten acht Kilometern komme ich fast tausend Meter tiefer.
Das erste Dorf, das ich auf dem
jenseitigen Hang erreiche, ist El Acebo. Nach der Überlieferung waren die
Bewohner jahrhundertelang von der Steuer befreit; als Gegenleistung mußten sie
den Bergpfad begehbar machen und mit 800 Holzpfählen kennzeichnen.
Auch diese Siedlung besteht, wie die
Dörfer davor, aus einer einzigen Straße, trotzdem ist der Unterschied zu den
bisherigen Ortschaften sehr augenfällig. Die Häuser sind zwar ärmlich, aber
gepflegt und bewohnt, die Hauptstraße ist sauber, lauter Hinweise, die
gegenüber der anderen Bergseite einen gewissen relativen Wohlstand vermuten
lassen. Auch die Vegetation ist üppiger, grüner. Diese ist die Wetterseite, wo
offensichtlich mehr Regen fällt als an der vom Wetter abgewandten Ostseite.
Sogar der Baustil der Häuser ist ein
anderer: Viele der Bauten zeigen einen offenen hölzernen Erker, der in der
ganze Breite des Hauses weit über der Straße ragt.
In der kleinen Bar bestelle ich ein
Bier und ein Bocadillo und setze mich auf die Holzbank neben dem Eingang. Eine
halbe Stunde später hat der Wirt gut zu tun: Ein Dutzend hungriger und
durstiger Pilger plündern die vorbereiteten Vorräte. Auch meine Freunde aus
Holland sind da. Anna, kaum angekommen, ist schon wieder beim Zeichnen. Mit
Jaap trinke ich noch ein zweites Bier. Die Stimmung ist gelöst, die Sonne
scheint, ich habe überhaupt keine Lust, weiter zu laufen.
Eine spanische Pilgerin, vielleicht
Anfang fünfzig, gesellt sich zu uns. Sie redet abwechselnd, je nach Bedarf,
englisch, französisch oder spanisch, und das ohne Punkt und Komma. Sie heißt
Antonía und ist Lehrerin. Ja, dann ist alles klar! Auch mit mir unterhält sie
sich intensiv und lange, was ohne Schwierigkeit gelingt: Ich brauche nur zu
nicken, reden tut nur sie.
Die ersten brechen auf; auch ich gebe
dem sozialen Druck nach. Nach einer Stunde, immer weiter abwärts, kommen wir
nach Riego de Ambrós, wo der in El Acebo gesehene Baustil sich fortsetzt. Viele
Blumen und lange nicht mehr gesehene Obstbäume, Kirschen, Apfel, Reineclauden,
erfreuen mein Herz. Ich merke erst jetzt, wie ich doch dieses Gartengrün
vermißt habe.
Mensch, ist der Pfad doch steil! Wie
lange soll es so weitergehen? Meine Knie, die ich schon fast vergessen hatte,
machen mich durch Stiche auf sich aufmerksam.
Endlich geschafft! Wir erreichen den in
einem tiefen Tal fließenden Rio Meruelo. Nur noch wenige Schritte über die
römische Steinbrücke und wir sind in Molinaseca angekommen. Der Fluß ist unter
der Brücke gestaut und wird, wenn die Wassertemperatur es erlaubt, als
Schwimmbad benutzt. Nach den vergangenen kalten Tagen ist jetzt das Wasser zu
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