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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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Stempel in meinen
Pilgerpaß. Sie wird freundlich und ich bekomme ihn.
    Der ehemalige Pilgerweg von Konstanz
nach Einsiedeln heißt „Schwabenweg“, weil er von Pilgern, die aus dem
süddeutschen Raum kamen, benutzt wurde. Ziel dieser Pilgerfahrten war die
schwarze Madonna von Einsiedeln, aber viele Pilger setzten die Reise zu den
Gräbern der Apostel Petrus und Paulus in Rom oder des Jakobus nach Santiago de
Compostela fort. Die Strecke folgt weitgehend der historischen Trasse.
    Es hat aufgehört zu regnen. Einige
Kilometer weiter ist die Landschaft wieder so, wie in Oberschwaben gewesen ist:
sanfte Hügel, weitläufige Wiesenflächen und Ackerfelder, nur kleine
Ortschaften, Einzelhöfe mit vielen Apfelbäumen. Eigenartig finde ich, daß die
wenigen Bäche, die hier fließen, sich tief in schluchtartige Tälern eingegraben
haben, die man von weitem nicht sieht und in diesem harmonischen bäuerlichen
flachen Landstrich gar nicht vermutet. Wenn man, wie ich südlich von
Lippoldwilen, ein solches Tal überquert, begibt man sich innerhalb von wenigen
Metern in eine andere Welt. Von der flachen Wiese steigt ein mit Geländern
gesicherter Treppenpfad an dem bewaldeten, sehr steilen Abhang zu einem
Wildbach hinunter. Unten ist es feucht und dunkel, anstelle Gras wächst nur
Moos und Schachtelhalm. Dann eine kleine Holzbrücke, ein steiler Pfad nach
oben, und ich setze meinen Weg auf der flachen Wiese fort, als ob die Schlucht
dazwischen gar nicht gewesen wäre.
    In Märstetten angekommen gehe ich zum
Pfarrer und bekomme einen Stempel in meinen Pilgerbrief. In einem kurzen
Gespräch werde ich gefragt, wie mir der lange Weg bekommt? Ich wundere mich,
wie ich mich sagen höre, daß mir diese Reise sehr große Freude macht. Es muß
etwas dran sein.
     
     

Sam stag, am 22. März
Von Märstetten nach Münchwilen
    In Kaltenbrunnen stehtam Ortseingang eine kleine Jakobskapelle. Auf der Holzbank
vor der verschlossenen Tür sitzt eine ältere Dame, neben ihr der Rucksack, der
sie als Wandersfrau ausweist. Sie bittet mich, mich zu ihr zu setzen und ein
„Schwätzchen zu halten“, wie sie sagt. Sie ist zwar keine Pilgerin, aber über
den Jakobsweg bestens informiert.
    Die lange Zeit der Einsamkeit zeigt
ihre Wirkungen. Ich bin förmlich ausgehungert nach Gesprächen, Begegnungen,
jeder Art von menschlichem Kontakt und Zuwendung. Einerseits genieße ich die
Freiheit, die ich in allen meinen Entscheidungen habe. Wann und wohin ich gehe,
wie lange und wie weit ich laufe, alles dies und noch viel mehr kann ich
spontan entscheiden und meine Entscheidungen genau so spontan revidieren. Mit
der Zeit bekomme ich einen immer klareren Kopf, frei von den Sorgen des
gewohnten Alltages, und frei für philosophische Gedanken über Sinn und Unsinn
des Lebens. Ich kann meine Gedankengänge bis zu Ende verfolgen, und wenn ich
mit dem Ergebnis nicht zufrieden bin, noch einmal von vorne anfangen. Ich kann
endlose Selbstgespräche führen, keiner quatscht mir dazwischen, keiner sagt,
daß ich spinne. Mein Blick für die Welt wird von Tag zu Tag schärfer. Ich sehe
die Wolken, die Bäume, die Blumen mit neugierigen Kindesaugen, die ich lange
verloren geglaubt habe.
    Andererseits fehlt mir der Austausch
mit anderen Menschen. In Stunden der Freude wäre ich noch glücklicher, diese
wunderbare Welt nicht nur mit meinen eigenen Augen, sondern auch mit den Augen
eines geliebten Menschen sehen zu dürfen.
    In Zeiten des Zweifels verhallen meine
Fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Und Fragen habe ich, Gott weiß es, genug!
Die wichtigste, täglich wiederkehrende Frage ist die nach meiner
augenblicklichen Identität. Was ich hier tue, liegt außerhalb von jeglichen
Normen, und damit habe ich auch mich selbst des normgegebenen
Selbstverständnisses beraubt. Ich wandere nicht in der Schneewüste der
Antarktis, wo die außergewöhnliche Umwelt und der außergewöhnliche Wanderer
sich in einer gewissen Harmonie befinden, sondern in Gegenden, wo nichts darauf
hindeutet, daß die Alltagsnormen weniger Gültigkeit hätten. Ganz im Gegenteil!
In dem ordentlichen Schwabenland und in der noch ordentlicheren Schweiz stellt
sich mir, der die Ordentlichkeit auch verinnerlicht hat, die Frage, ob das
überhaupt in Ordnung sei, was ich hier treibe? Hat es einen Sinn, einen Weg als
Pilger zu wählen, wo ich mich schon darüber freuen muß, wenn jemand von der
Jakobspilgerei überhaupt gehört hat? Bin ich schon ein Pilger, weil ich mich
als solchen betrachte?
    Nach

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