Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
angehalten, keinen Müll zu produzieren, sondern sie
sollen den Unrat sortieren. Das genügt, dann sind sie beschäftigt und sie
kommen nicht auf den Gedanken, Fragen zu stellen, wie zum Beispiel nach dem
Verbleib des so schön gesammelten Mülls. Gib den Kindern etwas zu spielen, dann
hast Du Ruhe vor ihnen!
Über Wiesen, Wälder und Apfelfelder
nähere ich mich dem Bodensee, ¿en ich aber noch immer nicht zu sehen bekomme.
Ein tiefer Hohlweg mit dem Namen Alte Landstraße bringt mich nach Meersburg.
Erst hier erblicke die weite graue Wasserfläche.
Mir ist ganz eigenartig zumute. Der
Bodensee ist für mich auf diesem Weg so etwas wie ein heimliches Zwischenziel
gewesen. Ich habe oft gedacht, wenn ich Santiago de Compostela, aus welchen
Gründen auch immer, nicht erreichen kann, dann wäre es bis zum Bodensee auch
eine schöne Leistung, womit ich mich schon ein wenig zufriedengeben könnte.
Manchmal ist mir auch diese Entfernung von 630 Kilometern so aberwitzig
vorgekommen, daß ich große Zweifel hatte, es jemals zu Fuß bewältigen zu
können.
Jetzt bin ich da. Es ist verrückt! Ich
bin tatsächlich von Kassel bis zum Bodensee gelaufen! Unfaßbar!
Gleichzeitig wird mir aber schlagartig
klar, daß ich in den viereinhalb Wochen kaum mehr als ein Fünftel der Strecke
hinter mich gebracht habe. Das sind Perspektiven, die meine Freude über das
Ankommen stark mindern, ja fast erschlagen.
Meersburg ist ein schönes altes
Städchen, dem man den jahrhundertealten Reichtum ansieht. Ich gönne mir nur
einen kurzen Rundgang und will schnell mit dem Schiff hinüber nach Konstanz.
Die Fähre legt in dem Vorort Staad an,
wo auch die Jugendherberge sich in einem hohen Betonturm befindet. Dieser
kuriose Bau wurde angeblich schon als Jugendherberge erbaut. Die oberen Stockwerke
sind baufällig und — da nicht mehr benutzbar — geschlossen. Meine kleine
Kammer, in der ich schlafe, ist im Keller. In einem hohen Turm im Keller!
Freitag, am 21. März
Von Konstanz nach nach Märstetten
Als ich morgens aufwache,
höre ich den Regen vor meinem Kellerfenster plätschern. Noch im Halbschlaf
überlege ich, welche guten Gründe könnten herhalten, um heute nicht laufen zu
müssen. „Stadtbesichtigung“ wäre nicht schlecht, aber im Regen?
Es dauert etwa eine Stunde, von Staad
in die Altstadt von Konstanz zu laufen. Dabei stelle ich mir vor, wie die
Pilger im Mittelalter den Einzug in die Stadt erlebt haben.
Heute ist Konstanz nur eine von vielen
schönen süddeutschen Städten. Am Anfang des 15. Jahrhunderts war das anders.
Damals wurde hier das größte Kirchenkonzil aller Zeiten abgehalten, in dem nach
vierjährigen zähen Verhandlungen die fünfzig Jahre währende Kirchenspaltung
aufgehoben wurde. Man kann, ohne zu übertreiben, behaupten, daß ohne diese
Einigung die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen hätte. Die Stadt
soll in diesen vier Jahren neben ihren zehntausend Bewohnern etwa
siebzigtausend Fremde beherbergt haben! Viele der Bauten von damals stehen
heute noch und unterstützen meine Phantasie bei der Betrachtung des Geschehens
von vor fast sechshundert Jahren.
Das Münster, obwohl allseits hoch
gelobt, ist vom puristischen Standpunkt her gesehen wenig attraktiv. Die
Anfänge liegen im 11. Jahrhundert, wovon das Hauptschiff Zeugnis gibt. In der
Gotik wurden einige Teile umgebaut, die Seitenschiffe und das Äußere der Kirche
tragen Zeichen dieser Epoche. Im Barock schließlich wurde die Holzdecke
herausgenommen, und das romanische Schiff mit einer barocken Stuckdecke
versehen. Über dieses Stilpotpourri lese ich in einem Prospekt: „...wodurch die
gute Gelegenheit sich ergibt, verschiedene Baustile miteinander vergleichen zu
können“. Das ist richtig.
Vielleicht ist meine kritische Stimmung
mit dem kalten Regen zu erklären. Konstanz ist schon eine schöne Stadt, und es würde
sich sicher auch für mich lohnen, hier mehr Zeit zu verbringen. Jetzt aber
verlasse ich die Altstadt durch das südliche Schnetztor.
Nur einige Meter weiter, noch mitten in
der Stadt, verläuft die deutschschweizerische Grenze. Danach heißt dieselbe Stadt
nicht mehr Konstanz, sondern Kreuzlingen. Der Unterschied ist nicht sichtbar,
aber hörbar: Hundert Meter reichen aus und die Menschen sprechen nicht mehr
Schwäbisch, sondern Schwyzerdeutsch.
Das Zollfräulein schaut mich etwas
unsicher, aber betont streng an und fragt nach dem Inhalt meines Rucksackes.
Ich erzähle über mein Pilgerdasein und bitte sie um einen
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