Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Gebäude und ein neues, aber passend „alt“
hergerichtetes Holzhaus. Das Bild hat etwas Märchenhaftes an sich, und wie im
Märchen begegne ich hier einem alten gekrümmten Großmütterlein, das, sich auf
einen Stock stützend, mir freundlich zulächelt und nach meinem Weg fragt. Ich
beantworte seine Fragen. Es lobt mich ob meines langen Pilgerweges und wünscht
mir Gottes Hilfe und Segen. Ich bedanke mich und setze meinen Weg fort. Als ich
mich nach etwa zwanzig Schritten nochmals nach ihm umdrehe, ist es nicht mehr
zu sehen. Wie vom Boden verschluckt! Ich weiß nicht, wie das möglich ist, aber
so genau will ich es auch nicht wissen.
Vorbei an mehreren kleinen Weihern
zwischen den Ackerfeldern komme ich nach Wünnewil, und meine Freude ist groß,
als ich auf der Hauptstraße ein Gasthaus mit dem schönbemalten Schild über dem
Eingang erblicke: „Gasthaus St.-Jakob“. An der einen Seite des Blechschildes
ist der Heilige in zünftiger Pilgerkleidung und mit Muschel am Hut akkurat
gemalt, auch der Pilgerstab in seiner Hand fehlt nicht. Hier lief in den
früheren Jahrhunderten der Weg der Jakobspilger von Bern nach Tafers und weiter
nach Fribourg. Das von mir geschätzte Alter des Hauses, die Lage an dieser
Straße und der Name des Lokals lassen die Vermutung zu, daß es sich hier um
eine alte Pilgerherberge handelt. Da kann ich, der Jakobspilger, nicht einfach
Vorbeigehen, ich muß unbedingt einkehren!
Ich begrüße die Wirtin und sage ihr,
daß ich ein Jakobspilger bin, aber sie versteht mich nicht.
„Was sind Sie?“ fragt sie, und als sie
mit meiner Antwort nichts anzufangen weiß, fragt sie, was ich eigentlich
möchte.
„Ein Bier“, sag ich enttäuscht und
setze mich hin. Später frage ich sie, ob sie sagen könne, wieso das Haus nach
dem St. Jakob benannt ist. Sie weiß es nicht und fragt die anwesenden
Stammgäste danach. Auch sie wissen es nicht. Ein alter Herr meint, vielleicht
könnte ein früherer Besitzer des Gasthauses den Name Jakob gehabt haben...
In Schmitten nehme ich ein Zimmer. Es
ist noch früh am Nachmittag, aber Fribourg ist noch weit, bis dahin schaffe ich
es heute nicht.
Heute habe ich gemerkt, wie die Sprache
allmählich ins Französische übergeht. Die Menschen reden hier noch
Schwyzerdeutsch, aber ich höre zwischendurch auch französisch. Wenn das mit
meinem Französisch nur gutgeht!?
Am späten Nachmittag wird das Licht
allmählich trübe, der Himmel zieht sich zu. Es sieht nach Regen aus. Meinen
Wunsch, den berühmten Kometen heute abend zu Gesicht zu bekommen, muß ich auf
bessere Zeiten verschieben.
Freitag, am 4. April
Von Schmitten nach Fribourg
Wie schon so oft auf dieserReise, hört der Morgenregen, mit dem ich losmarschiere,
bald auf. Ich weiß nicht, ob es dafür eine fachliche Erklärung gibt. Sonst
könnte ich glauben, daß mein Lauf gottgefällig ist.
Nach einer kurzen Strecke über
Getreidefelder steigt mein Feldweg höher in den Wald Lanthenholz hinein, in
einen herrlichen lichten Mischwald mit alten Bäumen. Auch hier folge ich einem
tiefen Hohlweg, der zeigt, daß diese heute so unscheinbare Forststraße früher
eine wichtige Verkehrsverbindung gewesen ist. Oben angekommen werde ich von
Sonnenstrahlen begrüßt, die in der dunstigen Waldluft helle schnurgerade Pfeile
zu den tausenden von blühenden Weißkleepflanzen hinunter senden. Scharen von
Waldvögeln tirilieren, wie sie es nur tun, wenn sie nach einem Regen die warme
Sonne freudig begrüßen. „Hier ist es wunderschön!“ denke ich und merke, wie
eine euphorische Stimmung über mich kommt. Ich bleibe stehen und halte mein
Gesicht mit geschlossenen Augen in die wärmenden Sonnenstrahlen.
„Gott, ich danke Dir für die Gnade,
solche große Freude in mir zu spüren, und für die Fähigkeit, Demut und
Dankbarkeit empfinden zu können!“ höre ich mich laut sagen, und ich finde es
weder merkwürdig noch peinlich, hier unter freiem Himmel laut zu beten, auch
wenn ich dies noch nie vorher getan habe. Ich tue ja nichts anderes als die
Vögel, die sich über ihr Leben freuen, und sie finden es sicher sehr natürlich,
was ich hier tue.
Das Dorf Tafers ist auf dem von
Einsiedeln nach Santiago de Compostela führenden nördlichen Pilgerweg eine
wichtige Station gewesen. Zwar ist die schöne Gemeindekirche nicht dem heiligen
Jakobus, sondern dem heiligen Martin gewidmet, aber auf dem Friedhof neben der
Kirche sind zwei stattliche Kapellen zu sehen, von denen die östliche eine
Jakobuskirche ist. Im Inneren
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