Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Glockenläuten der Kirche in Onnens
untermalt.
Nach Lovens bleibe ich auf einem
Feldweg einen Augenblick stehen, um die herrliche Aussicht und einen langen
Schluck aus meiner Trinkflasche zu genießen. Ein Mann, etwa in meinem Alter,
kommt vorbei und fragt, ob mein großer Durst von einem langen Weg käme. Das
kann ich mit gutem Gewissen bejahen. Ich erzähle ihm von dem Pilgerweg, der in
früheren Zeiten hier durchzog. Davon hat er auch schon gehört, aber, obwohl
seine Familie den nahen Bauernhof seit langem bewirtschaftet, weiß er nichts
Genaueres darüber. Ich lobe die schöne Landschaft und werde fast neidisch, als
ich in seinem langsam schweifenden gelassenen Blick den selbstverständliche
Heimatstolz entdecke. Wir stehen auf der Anhöhe an einem Wiesenrand. Neben uns
weiden schwarzweiße Kühe in dem frischgrünen Gras. Der ferne Horizont wird im
Nordwesten von dem massigen Bergzug des Jura, im Südosten von den felsigen
schneebedeckten Spitzen der Berner Alpen gezeichnet. Er zeigt und nennt mir die
einzelnen Flur- und Wiesenstücke, die Gehöfte, die Berge und Gipfel, wie man Verwandte
vorstellt. Das sind die Momente, in denen bei mir der Zweifel aufkommt, ob die
Selbsteinschätzung meiner Person als Kosmopolit meinen Sehnsüchten gerecht
wird.
Besonders glücklich und zufrieden
äußert er sich über die Tatsache, daß sein Sohn die dreihundertjährige
bäuerliche Familientradition auf dem Hof weiterführt. Er berichtet:
„Ich habe ihm damals gesagt: Wenn Du
diese Arbeit magst, dann mache es, es ist eine schöne Arbeit. Wenn Du aber nur
für das Geld arbeiten möchtest, dann laß die Finger davon, lerne lieber
Bankkaufmann, dann hast Du mehr Spaß am Geldverdienen. Das Wichtigste an der
Arbeit ist nämlich, wissen Sie, nicht das Geld, sondern die Freude. Mein Sohn
macht jetzt mit, und es gibt zwischen uns immer wieder
Meinungsverschiedenheiten, aber das ist nichts Nachteiliges. Sehen sie sich
diese Kühe an! Bei der letzten Leistungsschau sind wir mit diesen Tieren die
Viertbeste in der Schweiz geworden! Jetzt würde mein Sohn mit keinem Bänker
mehr tauschen wollen!“
Ein Mensch mit Liebe für das Alte und
Neugier für das Neue muß sich manchmal als Außenseiter behaupten. So auch
dieser in seiner Religiosität. In dieser ländlichen Gegend ist die
Zugehörigkeit zu einer der Kirchen eher eine Sache der Geburt als des Glaubens.
Das hat ihm aber nicht genügt, wie er sagt. Er wollte über die ihn
beschäftigenden Glaubensfragen mit Gleichgesinnten lebendig diskutieren und war
dabei in seiner katholischen Kirche auf Widerstand gestoßen. Da die
Protestanten in seiner Bekanntschaft mehr Verständnis für sein Ringen um die
Wahrheit zeigten, hat er die Konfession gewechselt. Weil er in der
Dorfgemeinschaft und in seiner Familie eine gewisse Autorität besitzt, wird der
Übertritt zwar toleriert, aber akzeptiert wird das wohl nie.
Auch ich erzähle ihm kurz, daß damals
in Davos, in der Zeit der Not, mir nur die wiedergefundenen Reste meiner
früheren Religiosität Trost und Hilfe gegeben haben. Seitdem bin auch ich ein
Suchender mit vielen Fragen.
Er will weiterarbeiten, und ich will
weiterlaufen; es ist kalt, wir fangen an zu frieren. Wir drücken uns lange die
Hand. Ich denke, wir haben in einer Viertelstunde mehr über uns erzählt und
erfahren, als manche meiner langjährigen Freunde mir über sich je erzählen
werden.
Eine Stunde später erblicke die
imposante Silhouette der Stadt Romont. Hoch oben auf einem steilen Hügel thront
die vieltürmige, märchenhafte Stadt.
Die alte Oberstadt hat ihren
mittelalterlichen Charakter behalten. Die mächtige Burg, die schöne
Pfarrkirche, Befestigungstürme und Teile der Stadtmauer sind gut erhalten
geblieben und geben der Stadt ein pittoreskes Aussehen.
Ich steige im „Lion d’Or“ ab. Der Name
ist unangemessen: Das 62-DM-Zimmer hat kein fließendes Wasser. Aber es ist
sauber, und ich werde von Tag zu Tag genügsamer.
Sonntag, am 6. April
Von Romont nach Moudon
Den Kometen werde ich, wenn das Wetter weiter so wolkig und regnerisch bleibt, wohl nicht
mehr sehen. Auch gestern abend ist es zu wolkig gewesen, heute früh regnet es
sogar. Meine Stimmung ist betrübt. Ich fühle mich einsam, einsamer als bisher.
Hier finde ich niemanden mehr, der deutsch sprechen kann. Meine geringe
Sprachkenntnisse sind zwar ausreichend, um mich nach dem Weg zu erkundigen oder
ein Zimmer zu bestellen, aber für eine Unterhaltung reicht es nicht mehr.
Wie oft
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