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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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heute an ihren Originalplätzen wie Perlen aufgereiht. In den
vierhundertfünfzig Jahren ihres Bestehens ist hier kein
Barockisierungsfanatiker, kein modernisierungsbesessener Stadtrat und kein
neuzeitlicher Verkehrsplaner auf den Gedanken gekommen, diese wunderschönen
Zierden der Stadt abzubrechen oder auch nur anderswohin zu versetzen. Hut ab vor
so viel Bürgersinn und Heimatliebe!
    Nach dem Abendessen blättere ich ein
bißchen in den ausliegenden Tageszeitungen. Mein Gott, wie habe ich mich von
diesen Zeitungskatastrophen entfernt! Ich sollte im Interesse meiner
psychischen Gesundheit auch nach meiner Reise meiden, mich mit diesen
mundgerecht aufbereiteten Gruselgeschichten futtern zu lassen.
     
     

Mittwoch, am 2 . April
In Bern
    Manfred kommt wie besprochen, und wir
verbringen miteinander einige schöne Stunden. Nach dem
kurzen Rundgang in der ehrwürdigen Altstadt suchen wir uns eine sonnige
Caféterrasse.
    Von allen meinen Freunden ist Manfred
derjenige, der das größte Interesse an meiner Unternehmung zeigt, und wenn er
die Zeit gehabt hätte, wäre er sicher mit mir gekommen. Jetzt sitzen wir hier
in einer gelösten, entspannten Atmosphäre; er möchte alles hören, und ich
möchte alles erzählen, auch wenn es in der Kürze kaum möglich ist.
    Auf meiner Reise habe ich bis jetzt
vielleicht wenig Sensationelles, aber viel Persönliches erlebt, und beim
Erzählen bekommt die unüberschaubare Menge der Eindrücke und Erfahrungen auch
für mich eine vage Struktur, die es ermöglicht, eine vorläufige Zwischenbilanz
zu ziehen.
    Ich habe immer geglaubt, daß diese
Reise, als meine persönliche Privatveranstaltung, mir vollkommen freie Hand
läßt, an jedem beliebigen Tag und Ort frei zu entscheiden, ob ich weiterlaufe
oder aufhöre. Dem ist nicht so. Die letzte Möglichkeit zu einer freien
Entscheidung in dieser Frage habe ich vor dem Beginn der Reise
gehabt. Ich konnte wählen: will ich pilgern, oder nicht? Schon nach dem
allerersten Tag hätte ich eine Begründung gebraucht um aufzuhören, für das
Weiterlaufen dagegen nicht. Jeder vorzeitige Abbruch meiner Reise ohne einen
triftigen Grund würde die hunderttausende Schritte und den dafür notwendig
gewesenen emotionellen und körperlichen Aufwand als unangemessen und damit
sinnlos erscheinen lassen. Ich bin dabei, eine selbstgestellte Aufgabe,
vielleicht die größte selbstgestellte Aufgabe meines Lebens zu lösen. Es ist
für mich einfach unvorstellbar, mir zu sagen: „Ich habe keine Lust mehr, das
war es!“
    Die Einsamkeit drückt mich mehr und
mehr. Auch die Vorstellung, daß mein Körper sich mit der Zeit auf die tägliche
Belastung so weit einstellt, daß ich das Laufen als nicht mehr anstrengend
empfinde, hat sich als Irrtum erwiesen. Zwar habe ich einiges Gewicht verloren,
und das Gefühl, am Abend völlig erschöpft zu sein, ist geringer geworden, aber
die körperlichen Beschwernisse verlassen mich fast nie. Allerdings, sie
ängstigen mich nicht mehr so wie am Anfang, ich lerne sie richtig
einzuschätzen, zu beachten, zu akzeptieren, aber ich vermeide es, sie
überzubewerten.
    Wenn ich in der Frühe losgehe, drückt
mich beispielsweise der linke Gurt des Rucksacks. Es hat keinen Sinn, jetzt die
Gurtlänge zu ändern, wie ich es an den ersten Tagen versucht habe, denn dann
drückt plötzlich der rechte Gurt, oder der Beckengurt, dann das Hüftpolster,
und ich bin bis zum Abend mit der „richtigen“ Einstellung der Gurte
beschäftigt. Nein, ich lasse das Drücken zu, fünfzehn Kilo Gewicht drückt nun
mal. Plötzlich spüre ich ein Stechen in meinem linken Knie. Es ist sehr
unangenehm, ich suche beim Laufen Tritte auf dem Boden, die Querneigung nach
rechts haben, damit mein linkes Knie beim Auftreten nicht nach außen, sondern nach
innen gebogen und entlastet wird. Ich bin damit so beschäftigt, daß ich den
Rucksackgurt vergesse. Später meldet sich in meinem rechten Mittelzeh ein
Taubheitsgefühl, und dabei vergeht mein Knieschmerz.
    Dann naht die Müdigkeit. Sie will mich
überreden, eine Pause zu machen, obwohl die letzte Rast kaum eine Stunde zurück
liegt. Wenn ich nachgebe, komme ich nicht voran, und der Tag verlängert sich in
Unendliche. Jetzt helfen nur zusammengebissene Zähne und die „Arbeitslieder“.
Ich nenne diese in meinem Kopf entstehenden primitiven, aus nur drei-vier Tönen
bestehenden rhythmischen Melodien so, weil sie mich an die einfachen monotonen
Lieder der Urvölker erinnern, die sie bei der gemeinsamen Arbeit zu

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