Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
steht ein schöner bunter, etwas rustikaler
Barockaltar. In der Mitte des Altars ist der heilige Jakob; links und rechts
neben ihm befinden sich die Apostel Johannes und Petrus. Doch bedeutender als
dieser Altar ist die äußere Bemalung der Giebelwand der Kapelle. Die Bilder
sind von einem Weitausladenden Dach vor Wettereinflüssen geschützt. Dargestellt
ist in acht aufeinander folgenden, in holperiger Versform betexteten Bildern
das „Jakob’sche Hühnerwunder“, eine mittelalterliche Legende, die in leichten
Abwandlungen in ganz Europa verbreitet gewesen ist; meistens wurde Santo
Domingo de la Calzada in Spanien als Ort des Geschehens betrachtet. Die
Geschichte in ihrer Naivität hat schon immer die Gemüter der Menschen berührt,
was anhand der zahlreichen, heute noch sichtbaren künstlerischen Darstellungen
entlang des Pilgerweges abzulesen ist. Ein schönes Beispiel dieser
Darstellungen ist diese hier in Tafers.
Die Geschichte, von der mehrere
Variationen existieren, ist schnell nacherzählt. Unterwegs nach Santiago
übernachten zwei deutsche Pilger, Vater und Sohn, in einer Herberge. Die schöne
aber böse Wirtstochter verliebt sich in den jungen Pilger, aber der hat nichts
anderes im Sinn, als die Pilgerreise zum Grab des Apostels. Die Abgewiesene
rächt sich, indem sie einen Silberpokal in dem Gepäck des Jünglings versteckt
und nach dessen Abreise ihn wegen des vermeidlichen Diebstahls anzeigt.
Berittene Diener holen den Pilger vom Weg in die Stadt zurück. In der
Pilgertasche des Jungen findet sich der Pokal, womit seine Schuld bewiesen ist.
Dafür wird er von dem Richter verurteilt und kurzerhand vor dem Stadttor
gehängt.
Der verzweifelte Vater setzt seine
Reise fort. In Santiago angekommen bittet er Jakobus um Hilfe, die Unschuld
seines Sohnes zu beweisen. Auf dem Rückweg, als er die Stadt wieder erreicht,
in der sein Sohn hingerichtet wurde, sieht er seinen Sohn noch immer am Galgen
hängen, aber er lebt und sagt: „Vater, ich bin unschuldig. Der Heilige hat mich
gerettet. Melde es dem Richter!“
Voller Freude eilt der Vater in die
Stadt, das Wunder zu verkünden. Der Richter aber, der eben sein Mittagessen zu
sich nimmt, schenkt ihm keinen Glauben und spottet: „Dein Sohn ist genau so
lebendig wie diese gebratenen Hühner, die ich jetzt verzehre!“ In dem
Augenblick bekommen die beiden Vögel ihr Federkleid zurück und suchen laut
gackernd durch das Fenster das Weite. Damit ist die Unschuld des Pilgers und
die Schuld der Wirtstochter bewiesen. Feierlich wird er vom Strick geholt und
sie an seiner Stelle aufgehängt.
Ich betrachte das Tableau lange und
werde dabei nachdenklich. Die Geschichte kannte ich schon. Sie ist, wie ich
fand, eine naive lustige Geschichte.
Wieso bin ich dann jetzt von der Erzählung so seltsam gerührt? Vielleicht
betrachte ich die Geschichte nach diesem langen Pilgerweg nicht mehr von außen
und unbeteiligt, sondern habe Mitgefühl mit den beiden armen Pilgern? Es sind
doch ehemalige Brüder von mir, denen es in der Fremde so ergangen sein soll!
Ich kehre in die Kirche ein und hoffe,
daß meine Nachdenklichkeit mich zum Beten befähigt. Dazu kommt es nicht. Ich
sehe eine junge Dame, die am Altar Vorbereitungen für eine Veranstaltung
trifft. Sie fragt mich freundlich, ob ich von weit käme und ist sichtlich
erfreut, als sie hört, daß ich ein „echter“ Jakobspilger bin. Es bedarf keiner
Minute und wir befinden uns in einem angeregten Gespräch über den Begriff
„Weg“, über die vielschichtigen Parallelen zwischen so einem langen Pilgerweg
und dem menschlichen Lebensweg, sowie die philosophischen und religiösen
Dimensionen des Begriffs, wonach unser irdisches Dasein nichts anderes sein
sollte als das Streben nach Güte und Wahrheit auf dem Weg zum seelischen Heil.
In diesem Zusammenhang muß ich den auch
von mir früher so oft benutzen Spruch, „Der Weg ist das Ziel“ überprüfen. Wenn
ich mein Leben oder meinen jetzigen Pilgerweg nach Santiago de Compostela
betrachte, ist der Weg ein herrliches aufregendes Suchen und beglückendes
Finden; aber dies als Ziel zu betrachten, ist eine nicht angebrachte
Aufwertung, die dem menschlichen Wesen entsprechende Ziele außer acht läßt.
Auch wenn Jesus sagt, „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, bedeutet
es für mich, daß der Weg nicht bereits die Heilung ist, sondern das
Versprechen: „Ich bin der Weg, der dich zum Seelenfrieden führt. Mit meiner
Hilfe erreichst du das Ziel“. Natürlich kann
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