Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
singen
pflegten. Das Knirschen meiner Schritte und das Klopfen meiner Stöcke auf dem
Weg geben den Takt zu diesen Kehrreimen, die mich manchmal tagelang verfolgen.
Sie bringen mich voran und helfen mir zu vergessen, daß ich müde bin.
Nun könnte man den Eindruck gewinnen,
ich erlebe das Laufen als ermüdend, quälend, negativ. Überraschenderweise ist
aber genau das Gegenteil richtig! Diese langzeitige sehr intensiv erlebte
Körperlichkeit beinhaltet auch viel Nahes, Natürliches, Befreiendes,
Befriedigendes. Dieser Körper mit seinen Körperteilen ist nicht, wie ich es bisher
empfunden habe, ein von meinem eigentlichen Ego, von der Seele unterscheidbares
Ding, eine Art Hilfskonstruktion, die mir das Lachen, Weinen und Leben
ermöglicht oder es mir erschwert. Nein, dieser Körper bin ich! Mein gelernter
und verinnerlichter intellektueller Versuch, meine Seele und meinen Körper
voneinander zu trennen, erweist sich von Tag zu Tag mehr als ein Irrtum. Die
Schmerzen und die Müdigkeit sind nicht etwas Fremdes, das mich in den
„eigentlichen“ Empfindungen wie Freude und Traurigkeit stört, sondern
Glücksgefühl, Hunger, Kraftempfinden und Müdigkeit bilden eine natürliche
bodenständige Einheit, die mich immer wieder neu definiert und die ich täglich
wie einen längst verlorenen Schatz wiederfinde.
Wie verträgt sich diese Stärkung des
„Weltlichen“ mit der Spiritualität einer Pilgerfahrt? Auch bei der Beantwortung
dieser Frage erweist sich die Praxis gegenüber theoretischen Gedankengängen
sehr hilfreich. Ich verspüre diesen Widerspruch gar nicht! Ganz im Gegenteil!
Durch die Intensivierung des Gefühls der Einheit wird der Widerspruch
aufgehoben, und auch die seelischen Empfindungen werden aus ihrer
theoretisierenden, isolierten Lage befreit, die seelischen Regungen werden
durch die körperlichen angereichert. Beispielsweise sind „Freudentränen“ oder
„mit offenem Mund zu staunen“ keine Floskeln mehr, sondern täglich erlebte
Realität. Ich gelange nach diesen ersten Wochen zu der Überzeugung, daß die
Einheit des Körpers und der Seele die einzige Daseinsform ist, die ein in
Wortsinn menschengerechtes Leben in der Schöpfung ermöglicht. Die
Körperfeindlichkeit des religiösen Puritanismus ist genau so menschenfeindlich
wie das Verleugnen der Seele, wie dies von Materialisten und von manchen
Intellektuellen betrieben wird.
Manfred erzählt mir über einen Kometen,
der seit Wochen am Abendhimmel sichtbar sein soll. Er wundert sich, daß ich
davon noch nichts gehört habe, da es in Deutschland seit Wochen kein
wichtigeres Thema gibt als „Hale Bop“. Am Abend gehe ich vor das Haus und suche
nach dieser seltenen Himmelserscheinung, aber die Lichter der Stadt machen die
Sterne unsichtbar. Vielleicht morgen, wenn ich in einem Dorf übernachte, habe
ich mehr Sternguckerglück.
Donnerstag, am 3. April
Von Bern nach Schmitten
Nach einem guten Frühstückhabe ich wieder große Lust zu laufen. Die brauche ich
auch, da die ersten anderthalb Stunden, bis ich aus dem Stadtgebiet
herauskomme, viel Verkehr und wenig Genuß bieten. Ab Niederwangen kann ich die
Autostraße verlassen und meinen Weg in der Natur fortsetzen. Das Gelände ist
ziemlich eben, gut markierte Wanderwege in einem altem Laubwald, dazu ein
sonniges Frühlingswetter, gute Voraussetzungen für einen angenehmen Wandertag.
Unterwegs begegne ich zwei älteren sehr
flotten Damen. Sie wollen nach Bramberg und finden den richtigen Weg nicht. Ich
zeige und erkläre ihnen die Richtung auf meiner Karte. Sie bedanken sich, wir
verabschieden uns und laufen in entgegengesetzten Richtungen weiter. Kaum eine
Viertelstunde später kommen sie mir plötzlich entgegen. Wie sie so schnell so
falsch laufen konnten, kann ich mir nicht erklären. Ich zeige ihnen noch
einmal, wo sie weiterlaufen müssen, und wir äußern die Hoffnung, trotz
vorhandener gegenseitiger Sympathie uns nie wieder zu begegnen. Diese Hoffnung
bleibt unerfüllt: Kurz vor Neuenegg kreuzen sich wieder unsere Wege. Danach
verabschieden wir uns tatsächlich zum letzten Mal und ich hoffe, daß sie nicht
das Schicksal des Fliegenden Holländers erleiden müssen.
Wieder aus dem Wald, senkt sich der
Wiesenweg hinunter nach Neuenegg. Hier in der geschützten Tallage stehen die
Obstbäume in voller weißer Blütenpracht.
Ich überquere den Fluß Sense. An der
anderen Flußseite steht ein Ensemble von einigen schönen Bauten: ein Gasthaus,
eine Kapelle, eine altes turmartiges
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