Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
ich mein Ziel ohne den Weg nicht
erreichen; aber ohne ein Ziel besteht die Gefahr, daß ich herumirre ohne
voranzukommen. Wie auf dem Pilgerweg, so auch im Leben.
Zum Abschied meint sie, daß ich den
Herrn Priester kurz besuchen sollte, er würde sich sicher über meinen Besuch
freuen. Sie begleitet mich zur nahen Priesterwohnung.
Der Herr Pfarrer, ein sympathischer bärtiger
Mittvierziger, führt mich in sein Arbeitszimmer, wo es neben alten Möbeln und
einigen hölzernen Heiligenfiguren eine wunderbare spätgotische Jakobusstatue zu
bewundern gibt. Ich bin erfreut und dankbar, dieses Werk von so nah betrachten
zu dürfen.
Anschließend versorgt er mich mit
fotokopiertem Informationsmaterial über den Heiligen und den Pilgerweg. Unter
anderen Schriften erhalte ich von ihm das Protevangelium des Jakobus, ein
fünftes Evangelium, das, wahrscheinlich wegen des zu volkstümlichen Charakters
des Textes, in dem Kanon des Neuen Testaments keine Aufnahme fand. Zum Abschied
empfiehlt er mir, nach Fribourg nicht den traditionellen, durch Schönberg
führenden Pilgerweg zu nehmen, sondern den viel schöneren durch die Schlucht
Galterengraben.
Dieser Wanderweg verläuft in der
Talsohle der Schlucht, die dieser relativ kleine Bach in den Sandstein gegraben
hat. An manchen Stellen sind die senkrechte Felswände bis zu achtzig Meter
hoch. Der Fußweg befindet sich in einem ausgezeichneten Zustand, ich genieße
mit vollen Zügen das Plätschern des Baches und die Schönheit der alten Bäume
und des Kleinen Immergrün, das an einigen Stellen den Waldboden wie ein blauer
Teppich bedeckt. Diese Pflanze kann nach der Volksglaube Liebeszauber bewirken.
Die Verbindung zwischen dieser
wildromantischen Schlucht und der Großstadt Fribourg ist ein Phänomen. Die
Stadtmauer riegelt die Schlucht quer ab. Der Bach fließt durch einen
bogenförmigen Durchlaß in die Stadt hinein, der Weg daneben wird durch ein
befestigtes Stadttor geführt. So komme ich aus der Einsamkeit der Natur
innerhalb von einer Minute in eine Großstadt hinein.
Hinter einer gedeckten Brücke folge ich
den Straßenzügen, die auch die mittelalterlichen Pilger benutzten. Die
Menschen, denen ich begegne, schauen auf mein Gepäck und grüßen mich
freundlich. Französisch. Vorbei an einem Renaissance-Pilgerbrunnen steigt die
Gasse so steil in die Höhe, daß die Gehwege die rampenartige Fahrbahn als
Treppen begleiten. Oben steht die mächtige gotische Cathedrale St-Nicolas.
Ich betrete sie, setze mich in eine der
hinteren Reihen und lasse den riesigen schwachbeleuchteten Raum auf mich
wirken. Bald merke ich aber, daß der Übergang aus dem Galterengraben in die
Stadt hinein viel zu rasch vor sich gegangen ist, und mental bin ich hier noch
gar nicht angekommen. So verlasse ich dieses schöne Gotteshaus, um danach an
dem verkehrsreichen Place Notre-Dame etwas ratlos rumzustehen.
Alle Sehenswürdigkeiten der Stadt
befinden sich hier in der Altstadt, die Herberge weiter oben in der Neustadt,
in der Nähe des Bahnhofs. Mir tun die Knie weh, so sehe ich zu, daß ich rasch
unter die Dusche komme. Ich tröste mich damit, daß ich zwar zum erstenmal, aber
mit Sicherheit nicht zum letzten Mal in Fribourg bin.
Samstag, am 5. April
Von Fribourg nach Romont
In der Herberge schlief ichmit einem jungen Schweizer in einem Zimmer. Mitten in der
Nacht bin ich plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt worden ohne zu wissen,
wodurch das geschehen ist. Im Halbschlaf merkte ich noch, daß ein Kissen auf meinem
Bauch liegt, war aber zu müde, darüber nachzudenken, wie es da hinkam.
Morgens beim Zähneputzen fällt mir
diese Geschichte wieder ein, und ich frage meinen Zimmernachbar, ob er wüßte,
was heute nacht vorgefallen sei. Er wird verlegen und bittet mich um
Entschuldigung, aber ich habe, wie er sagt, so bestialisch geschnarcht, daß er
in seiner Verzweiflung keinen anderen Rat mehr wußte, als mit seinem Kissen
nach mir zu werfen.
Mit schnellen Schritten verlasse ich
die schöne Stadt Fribourg. Da der markierte Wanderweg am Anfang durch
zahlreiche Windungen länger ist als es unbedingt nötig wäre, benutze ich bis
Neyruz die kürzere Landstraße. Dort steigt der Weg auf einen Landrücken, der in
achthundert Meter Höhe nach Südwesten verläuft. Die ersten Dörfer sind noch von
der Nähe der Großstadt gezeichnet, aber das Bild wandelt sich rasch ins
lieblich-ländliche. Diese Stimmung wird, wie in einem Heimatfilm, von den
langanhaltenden und weithin hörbaren
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