Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
schon auf dieser Reise, so auch
heute: Kaum bin ich unterwegs, hört es auf zu regnen. Es ist weiterhin grau und
kühl, aber trocken.
Kurz hinter dem Ausgang des Dorfes
Chesalles-sur-Moudon geht eine alte Frau mit ihrem auch nicht mehr jungen Hund
spazieren. Sie hat freundliche, gütig lächelnde Augen, als sie mich anspricht.
Sie bemerkt meinen Schwierigkeiten mit der Sprache und wechselt ins Deutsche.
Sie findet es bewundernswert, daß ich nach Spanien pilgern möchte und wünscht
mir für meinen Weg „Segen und viel Mut“.
„Wieso Mut?“ denke ich beim
Weiterlaufen. „Was hat mein Wandern mit Mut zu tun?“ Dann fällt mir ein, daß
vor dieser Reise viele meine Freunde mir sagten, daß sie nicht den Mut hätten,
so allein und auf so lange Zeit in die Fremde zu gehen. Mut ist das Gegenteil
von Angst, dachte ich. Ich laufe aber nicht durch die Antarktis oder auf
Minenfeldern, und auch die Räuber sind heutzutage eher in den Großstädten als
in den Wäldern zu finden. Wozu brauche ich Mut? Wozu wünscht mir diese Frau mit
dem freundlichen Blick Mut? Wieso meint sie, daß ich auf meinem Weg Mut
brauchen könnte?
Mir fällt plötzlich meine traurige
Stimmung von heute früh ein und der Unmut, den ich verspürte. Genau, jetzt habe
ich es! Mut ist nicht nur die von der Gesellschaft hochgeschätzte Haltung, die
es ermöglicht, etwas zu wagen, sondern auch das Gegenteil von Unmut. Mut zu
haben, um nicht mutlos, nicht unmutig zu sein! Ja, so gesehen, kann ich eine
Menge Mut gebrauchen!
Kurz vor der Stadt Moudon überquert der
Weg den Fluß La Broye und läuft auf die mittelalterliche, in die
Stadtbefestigung eingefügten Kirche St-Etienne zu. Der massige Kirchturm mit
quadratischem Grundriß ist eines der früheren Stadttore. Die von der Kirche in
die Stadt hineinführenden Gassen leiten, wie in so vielen Schweizer Städten, zu
einem schönbemalten Gerechtigkeitsbrunnen, eine energische Frauengestalt,
Justitia, mit Schwert, Waage und zugebundenen Augen.
Eine der steilen Gassen führt zum alten
Schloß. Auf dem steil abfallenden felsigen Flußufer darunter ist eine Reihe von
Häusern auf die Abbruchkante gebaut. Ihre Lage in dieser luftigen Höhe sieht
richtig gefährlich aus. Sie heißen auch „hängende Häuser“. Solange sie
hängen...
Am Abend reißen die Wolken am Himmel
auf. Vielleicht werde ich heute den Komet doch noch sehen können? Ich kann den
Abend kaum erwarten.
Dann ist es soweit. Ich gehe auf die
Straße, aber die helle Straßenbeleuchtung blendet und läßt die Beobachtung der
Sterne nicht zu. Oder? Da ist doch ein großer Stern zu sehen, der etwas
verwaschen ausschaut...
Ich laufe aus der Stadt hinaus zum
Fußballplatz, wo es in dieser Zeit kein Flutlicht und viel Dunkelheit gibt, und
als die Bäume den Blick zum Himmel freigeben, erblicke ich erstmals in meinem
Leben einen Kometen! Ich stehe wie angewurzelt da! Er ist größer und schöner,
als ich gedacht habe: Der helle große Stern und der lange pinselförmige
Schweif... Und wie ein Wunder, eine an mich persönlich gerichtete himmlische
Botschaft: Der Kopf des Kometen zeigt nach Südwesten, dorthin, wo Santiago de
Compostela auf mich wartet!
Ich denke an den Stern, der den Hirten
und den drei Königen den Weg zum Heiland zeigte! Auch Karl der Große wurde,
nach einer der vielen Jakobuslegenden, durch die Sterne der Milchstraße nach
Santiago geleitet!
Ich bitte alle klugen Menschen, die mir
an dieser Stelle erklären wollen, daß der Schweif eines Kometen eigentlich gar
kein Schweif ist, und der Kopf nicht in die Flugrichtung zeigt, sondern..., ich
bitte sie, mich mit solchen „Wahrheiten“ nicht zu behelligen. Ich bin noch nie
bei der Suche nach Wahrheiten so ausharrend und so weit gelaufen wie jetzt.
Ausgerechnet hier begegne ich dieser wunderbaren Himmelserscheinung, die ich
noch nie vorher gesehen habe und die ich nie mehr im Leben sehen werde, und sie
zeigt mir die Richtung nach Santiago de Compostela! Sollte das alles nur ein
Zufall sein?
Montag, am 7. April
Von Moudon nach Lausanne
Als ich in der Frühe am Ufer der La Broye meinen Weg fortsetze, bläst mir von Norden her
ein eisiger Wind entgegen. Obwohl noch in der Stadtnahe, ist es ein einsamer
Weg. Später kommt mir doch noch ein Jogger entgegen; sonst könnte ich glauben,
daß ich das einzige Lebewesen auf dieser Welt wäre.
Die Landschaft ist sanft-hügelig;
nichts läßt ahnen, was auf mich zukommt.
Nach Syens steigt der schmale Wirtschaftsweg
am Waldrand in
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