Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
höchstens drei Tage glücklich sein, und von diesen drei Tagen müßte
ich an zweien völlig betrunken sein.
Die schmale Landstraße, die nach Westen
führt, ist fast ohne Verkehr. Hier kann ich auf der Fahrbahnmitte, wo es
waagerecht ist, laufen: Auto oder Traktor höre ich schon von fünfhundert Metern
Entfernung. Nur Einzelhöfe und kleine Paarhäuserdörfer unterbrechen die
Eintönigkeit großer Ackerflächen. Auch die Dorfkirchen sind von geringem
Interesse: Sie sind erst im 19. Jahrhundert erbaut worden, meistens in dem
damals beliebten neugotischen Baustil, auch die Innenausstattung stammt aus
derselben Epoche. Diese romantisierende, aus Fichtenbrettern hergestellte
Laubsägengotik ist nicht meine Sache. Die Hunde! Wo ich laufe und wo ich stehe,
werde ich von Hunden angegiftet. Wie der Bachlauf vom Plätschern des Wassers,
so wird mein Lauf von dem hysterischen Geheule eingesperrter Hunde begleitet.
Die letzten vier Kilometer des heutigen
Weges, von Pont-Évéque bis Vienne, liegen schon im Stadtgebiet. Das vorher
breite Tal des Flusses Gère verengt sich schluchtartig, bevor der Fluß bei
Vienne in die Rhône mündet. In der Frühzeit der Industrialisierung hat man hier
die Wasserkraft intensiv genutzt, wie zahlreiche Wehre, Schleusen und die
vielen alten Industriebetriebe dies bezeugen. Jetzt zeigt die Gegend ein trauriges
Gesicht: Verfall, Industrieruinen, Müll, dazwischen verkommene Wohnhäuser,
Ausländergettos. Durch die enge Talstraße quälen sich Tausende von Autos durch,
die das optisch katastrophale Bild durch graublaue, pestilenzialische Abgase
ergänzen. Überraschenderweise wird hier an manchen Ecken saniert, indem man die
alten Gemäuer abreißt und inmitten dieses wirtschaftlichen Friedhofs nagelneue
schicke Wohnhäuser hochzieht. Man muß schon eine riesige Portion Optimismus
besitzen, um hier eine Wohnung zu kaufen oder auch nur zu beziehen.
Ausgerechnet an einem dieser
halbfertigen Häusern klebt ein sechssprachiges Plakat an der Wand:
„Laufen für
Arbeit und gegen Sozialabbau!“
Der Text ist ein Aufruf für einen
Sternmarsch nach Brüssel. Es sollen Gruppen aus ganz Europa, von Spanien bis
Schweden, von England bis Griechenland, sowie aus den osteuropäischen Ländern
zum Europarat marschieren, um dort gegen die Arbeitslosigkeit zu demonstrieren.
Man stelle sich die Panik vor, die auf der Vorstandsetage der Dresdener Bank in
Frankfurt ausbricht, wenn die Wandergruppe aus Bratislava in Brüssel eintrifft!
Das Zimmer in der Stadtmitte, das ich
mir leisten kann, soll ein Zimmer mit WC und Dusche sein und kostet 55 DM. Die
Einrichtung besteht aus einem Bett, zwei Nachtkästchen und einem Stuhl. Der
„Schrank“ ist eine Wandnische, deren Tür von selbst aufgeht und sich nicht
schließen läßt. In diesem Schrank ist nichts, weder ein Regalboden, noch eine
Hängevorrichtung, einfach nichts. Auch das Fenster läßt sich nicht schließen:
Die Stange der Schließkonstruktion ist gebrochen, auch der Griff fehlt. Das
„Bad“ ist eine mit Paravent abgetrennte Zimmerecke, wo sich eine Dusche, ein
Waschbecken und eine WC-Schüssel befinden. Alles starrt vor Dreck. Die Abflüsse
sind verstopft, beim Duschen läuft das Wasser über, und da in diesem „Bad“ sich
kein Bodenabfluß befindet, läuft die Brühe ins Zimmer hinein.
Leichtsinnigerweise bin ich dem Wunsch des Wirtes, das Zimmer im voraus zu
bezahlen, nachgekommen, und als ich jetzt nach unten gehe um zu reklamieren,
merke ich, daß das Haus verlassen ist. Kein Wirt, keine weiteren Gäste,
niemand.
Es tut mir leid, es sagen zu müssen,
aber diese verkommenen Häuser sind nie von Einheimischen bewirtschaftet. Was
heißt „bewirtschaftet“? Es ist eher eine Art Ausschlachten. Es wird abkassiert,
aber kein Pfennig mehr investiert; nicht mal eine kaputte Glühbirne wird
ersetzt. Nach einiger Zeit, wenn es hineinregnet und Ungeziefer die Oberhand
bekommen, wird das Haus einfach zugemacht und dem weiteren Verfall überlassen.
Ich finde es schade, daß diese
Unterkunft meine Stimmung verdorben hat. Vienne ist schön, es gibt eine Reihe
berühmter, sehr schöner Baudenkmäler, wie beispielsweise der gut erhaltene
römische Temple d’Auguste et Livie, die frühchristliche Église St-Pierre aus
dem 6. Jahrhundert oder die majestätische gotische Catédrale de St-Maurice. Ich
schaue sie lustlos an, mehr aus Pflichtgefühl als aus freudigem Interesse.
Abends zieht sich der Himmel zu.
Endlich regnet es. Schlecht gelaunt und voll
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