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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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als sich herausziehen lassen. Sie müssen aber
herausgezogen werden, sonst fühlt man sich zwischen der festgespannten oberen
und unteren Lage wie eine gepreßte Primel zwischen den Pappdeckeln eines
Herbariums. Beim Lockern der Decke muß man höllisch aufpassen, daß man sie
einerseits genug herauszieht, um überhaupt unter das Laken zu kommen, aber
tunlichst vermeidet, sie ganz heraus zu rupfen. Dann nämlich rutschen die
Schichten der Decke bei dem ersten Versuch, sich nachts in dem Bett umzudrehen,
unwiderruflich auseinander. In diesem Fall ist ein verbissener Kampf mit dem
zerknüllten Leinentuch und mit dem kratzigen Plaid bis zum Morgengrauen
vorprogrammiert.
    Bevor ich weiterlaufe, muß ich einige
Besorgungen machen. Ich kaufe mir Lebensmittel und Getränke, und weil es mir
noch immer schwindlig ist, lasse ich in einer Apotheke meinen Blutdruck messen.
Ich habe in den letzten Jahren immer erhöhten Blutdruck gehabt; jetzt ist er zu
niedrig.
    In einem Postamt möchte ich in den
Telefonbüchern nachsehen, wo ich heute abend eine Unterkunft finden könnte. Zu
meiner großen Überraschung wird mir mitgeteilt, daß die Postämter kein
Telefonbuch mehr haben. Wenn ich eine Nummer brauche, kann ich sie im „Minitel“
suchen. Minitel, was ist das denn?
    Die Dame von der Post kommt aus ihrer
Schalterkabine nach vorne und erklärt mir mit Engelsgeduld, wie dieser, für
Jedermann kostenlos bereitstehende, Online-Computer funktioniert. Da man mit
einem Suchprogramm gezielt nach „Unterkunft“ suchen kann, ist der Apparat für
meinen Zweck bestens geeignet. Die nächste Möglichkeit zum Schlafen bietet sich
in Aoste, in vierundzwanzig Kilometern Entfernung. Es ist schon spät am
Vormittag als ich die Stadt auf der nach Süden führenden schmalen Landstraße
verlasse. Der Zierstrauch Glyzine scheint hier sehr beliebt zu sein: Die akazienähnlichen,
zartlila Blütenzweige fließen wie Kaskaden über die Zäune auf die Straße
hinaus. Es gibt kaum Verkehr, das Laufen empfinde ich nicht so lästig wie
gestern. Das Wetter ist anfangs sonnig und warm, aber wie der Tag
voranschreitet, ziehen von Westen Zirruswolken auf. Es sieht nach
Wetteränderung aus. Wie ich heute früh beim Frühstück hörte, hat es hier seit
Februar keinen Tropfen mehr geregnet. Das ist also der Grund, warum ich gestern
ausgedörrte, vertrocknete Wiesen und Sträucher gesehen habe. Die Bauern würden
sich sicher freuen, wenn es heute regnen würde. Ich dagegen weniger.
    Die Landschaft ist lieblich, und obwohl
die Straße relativ wenig befahren ist, empfinde ich es als sehr unangenehm, den
ganzen Tag auf solchen Asphaltstreifen zu laufen. Diese schmalen Nebenstraßen
sind meistens mit einer starken Wölbung gebaut, damit das Regenwasser schneller
abfließen kann. So sind die Randstreifen meistens extrem schief, und man kann
es sich ohne eigene Erfahrung kaum vorstellen, wie diese Querneigung nach
einigen Stunden die Knie und die Knöchel belastet. Wenn die Fahrbahn mindestens
exakt ausgebildet wäre! So aber ist mal der linke, mal der rechte Randstreifen
schiefer als der andere. Ich wechsele ständig die Straßenseite, suche die
Linie, wo der Asphaltbelag die kleinste Querneigung hat. Am besten wäre es, die
Fahrbahnmitte zu benutzen, aber es kommen doch immer wieder Autos, die die
Straße für sich beanspruchen. In den Kurven muß ich sowieso immer die
Außenseite benutzen, damit ich von den Autofahrern rechtzeitig gesehen werde.
So laufe ich von links nach rechts und zurück wie ein Slalomfahrer.
    Abends, in Aoste, habe ich ein Zimmer
mit Fernseher. Die Hälfte der Nachrichten beschäftigt sich mit der
Jahrhundertdürre, die Frankreich in diesem Jahr heimgesucht hat. Der Boden ist
so trocken, daß es beispielsweise bis jetzt nicht möglich gewesen ist, den Mais
auszusäen. Auch heute wird es nicht regnen: Die Mittagswolken haben sich bis
zum Abend wieder aufgelöst.
     
     

Mittwoch, am 16. April
Von Aoste nach La Tour-du-Pin
    Ich habe das gute Zimmer mit dem bequemen Bett sehr genossen, und lasse mir sehr
viel Zeit, bevor ich aufbreche. Nach der gestrigen langen Wanderung auf dem
Asphalt habe ich wieder Kniebeschwerden. Ich will meine Beine schonen und nehme
mir vor, heute nur bis La-Tour-du-Pin zu laufen. Das ist etwa vierzehn
Kilometer weit, ein leichtes Tagespensum.
    Auch die heutige Strecke ist reine
Landstraße. Ich grimme vor mich hin, hadere mit dem Gedanken, meinen täglichen
Weg noch tagelang, vielleicht sogar wochenlang, mit den Autos

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