Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
telefonisch Zimmer zu bestellen. Als
bewußtseinstärkende Maßnahme nehme ich mir vor, es jetzt und sofort, erstmals
in meinem Leben zu versuchen, französisch zu telefonieren. Die Telefonnummer
habe ich heute früh notiert, jetzt brauche ich nur mit dem Handy zu wählen. Ich
überlege genau, was ich sagen möchte, atme dreimal durch, und dann wähle ich
die erste Nummer. Was kann mir schon passieren, wenn sie mich nicht verstehen,
oder ich die Antwort nicht verstehe? Nichts, überhaupt nichts!
Unter der ersten Nummer meldet sich
niemand. Die ganze Aufregung war umsonst. Ich probiere die zweite. Ein Mann
meldet sich. Ich frage nach einem Zimmer. Sicher, er hat eins. Ich frage nach
dem Preis. Auch das ist geklärt. Er fragt noch, ob ich am Abend essen möchte,
denn dann müßte ich einen Tisch reservieren. Das Menü kostet 20 DM. Alles klar.
Merci, monsieur. À tout à l’heure!
Ich werde verrückt! Es ging ja so
leicht, als wenn wir deutsch miteinander gesprochen hätten! Ich könnte von
Freude singen!
Auf diese Weise beruhigt, suche ich mir
einen geschützten Platz, wo ich mich zum Nachmittagsschlaf hinlege. Dazu ziehe ich
fast alles an, was ich mithabe.
Bourg-Argental ist eine kleine Stadt,
versteckt in einem engen Tal gelegen. Mein Hotel, wieder ein „Hotel Lion d’Or“,
steht hinter der Kirche mit dem schönen romanischen Portal, über dem der
Erlöser in einer Mandola zu sehen ist, umgeben von den Evangelistensymbolen,
Löwe, Stier, Adler und Engel.
Das Abendessen mundet hervorragend;
nicht weniger der gute Rotwein dazu. So ist der Tag doch noch ein schöner
geworden. Ich komme doch voran, und durch die Erfahrung mit dem Telefonieren
fühle ich mich unabhängiger, freier. Mal sehen, was der Morgen bringt.
Dienstag, am 22. April
Von Bourg-Argental nach Dunières
Die ersten anderthalb
Stunden sind nicht gerade genüßlich: Die enge, kurvenreiche und stark befahrene
Landstraße steigt weiter in dem Tal, höher und höher, ich muß höllisch
aufpassen, daß ich auf der bankettlosen Fahrbahn nicht überfahren werde. Hinter
St-Sauveur-en-Rue wird der Verkehr auf rätselhafte Weise weniger, das Gehen
viel angenehmer.
In der Bucht einer Haarnadelkurve
erhebt sich ein mit goldblühenden Ginstern bewachsener Fels, dessen Spitze von
einem Steinkreuz gekrönt ist. Ein junger Mann ist dabei, mit einer auf einem
Stativ stehenden großformatigen Profikamera dieses Kreuz zu fotografieren. Wir
begrüßen uns und kommen ins Gespräch. Er, von Beruf Fotograf, erzählt mir, daß
er dabei ist, über die Wegekreuze der Gegend einen Bildband zusammenzustellen.
Er zeigt mir eine Landkarte, in der er die Kreuze, die in der Umgebung stehen,
eingetragen hat. Nur in dem Parc naturel du Pilat, also auf einer Fläche von
etwa zwanzig mal vierzig Kilometern, sollen fast dreihundert Wegekreuze stehen!
Dies erzählt er mir mit einem Stolz, als ob er jedes dieser Kreuze selbst
aufgestellt hätte. Kein Wunder: Er ist hier in der Nähe, in St-Etienne, geboren
und lebt in Vienne. Ich höre zu, wie er die Schönheit seiner Heimat preist und
habe wieder das melancholische Gefühl, mir ist etwas entgangen.
Die Straße steigt weiter. Der Paß le
Tracol hat die beachtliche Höhe von 1083 Metern. Oben ist nur ein einsames
Gasthaus mit einer sonnigen Terrasse zu sehen, aber der kräftige, kühle Wind
erlaubt es mir nicht, mich dort hinzusetzen.
Das Dorf Riotord hat eine ganz
eigenartige, fremde Atmosphäre. Die Straßen und Plätze sind relativ breit und
vollkommen leer. Weder Bäume oder Blumen noch Menschen mindern den Eindruck der
Verlassenheit. Zwischen den aus grauem Stein erbauten Häusern drehen sich
pfeifend die luftigen Karussells, die der kalte Wind aus dem Staub der Straße
entstehen läßt. Und mitten in diesem Dorf, wo ich sogar in der Sommerhitze
frieren würde, steht ein wunderschönes Gotteshaus! Ich betrete es, setze mich
in dem Dämmerlicht hin, und genieße die mystische Ruhe des sakralen Raumes.
Meine Begeisterung, die ich für diese
Dorfkirchen in Frankreich empfinde, bezieht sich in der Regel auf das Gebäude,
auf die Raumwirkung, auf die schönen Maße und Proportionen. Die meisten dieser
Kirchen sind fast leer, oder sie sind im späten 19. Jahrhundert romantisierend
ausgestattet worden. Die Statuen der Heiligen und der Maria, die nie fehlen
darf, sind süßlich, wie Gipsfiguren der Volksfrömmigkeit. Die Kämpfer der
Französischen Revolution, die wir als unsere politischen Ahnen verehren, haben
ihrerzeit ganze
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