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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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aber eine amüsante.
    Die Straßen sind recht steil, und das
müssen sie auch sein: Vor mir liegt die Aufgabe, das große französische
Zentralmassiv zu überqueren. Das Gebirge, das sich in einer Länge von 300
Kilometer von Norden nach Süden zieht, hat hier, wo unsere Wege sich kreuzen,
eine Breite von etwa 150 Kilometer. Es ist eine eigenartige Erhebung, eher ein
von tiefen Flußtälern zerschnittenes Hochplateau als eine ausgeprägte
Bergkette.
    Im Mittelalter ist diese Passage des
Pilgerweges sehr gefürchtet gewesen, und das mit Recht. In dieser weitläufigen
Landschaft fehlen die markanten Eckpunkte, an denen der Wanderer sich
orientieren könnte. In der Regel herrscht hier ein sprichwörtlich schlechtes
Wetter. Im Frühjahr und im Herbst gibt es viel Regen, der den Pilgern von dem
ewigen stürmischen Westwind entgegen geblasen wird. Wenn kein Wind weht, gibt
es oft Nebel. Im Winter fällt Schnee, der von den Winterstürmen zu Hindernissen
hochgeweht wird, die den Weg unpassierbar machen. Mit all dieser Unbill
verglichen, galt die glühende Sommerhitze fast schon als angenehm.
Verständlich, daß diese Gegend immer schon dünn besiedelt und in den alten
Zeiten extrem ärmlich war, ein Umstand, der die Versorgung der Reisenden
schwierig machte. Auf Beute lauernde hungrige Wölfe und zahlreiche Räuberbanden
ergänzten das Bild des Schreckens, das das Massif Central den Reisenden geboten
hat. Wen wundert es, wenn dieser heute beliebteste französische Jakobsweg
damals wegen seiner Gefährlichkeit oft gemieden, und das Bergland im Süden
umgangen wurde?
    Am Wetter hat sich seitdem nicht viel
geändert und auch die Besiedlung ist dünn geblieben. Aber die Wölfe leben nicht
mehr und die Straßenräuber haben sich nach anderen, lukrativeren
Einnahmequellen umgesehen. Die Versorgungslage hat sich stark verbessert, die
Wege sind markiert. Geblieben ist die weite, spröde, unverbaute, ursprüngliche
Landschaft, die gerade diesen Weg für den heutigen Pilger und Wanderer so
attraktiv macht. Auch ich habe mich aus diesem Grund für diesen Weg, die Via
Podensis, entschieden.
    Erst aber muß ich aus der Stadt hinaus.
Bald begegne ich auf der einsamen Wohnstraße einem jungen Mann, der es sich auf
einer niedrigen Begrenzungsmauer bequem gemacht hat. Walkman, Kaugummi,
Baseballmütze... ob er antwortet, wenn ich ihn grüße? „Bon pèlerinage,
monsieur!“ grüßt er mich von Weitem freundlich. Mir wird es richtig wohl. Seit
zwei Monaten muß ich täglich erklären, wohin ich laufe und welche Gründe ich
habe, diese Mühe auf mich zu nehmen. Dabei wurde ich oft bestaunt, manchmal
bewundert, aber in der Regel als einer betrachtet, der etwas Niedagewesenes,
Erklärungsbedürftiges tut. Und jetzt ist es auf einen Schlag anders! Dieser
Junge hat mich nicht nach meinem Ziel gefragt. Offensichtlich genügt es, wenn
ich auf diesem Weg mit einem Rucksack auf dem Buckel in westliche Richtung
laufe. Alle, die mich sehen, wissen es: Hier läuft ein Jakobspilger nach
Santiago de Compostela!
    Nachdem ich die letzten Häuser von Le
Puy hinter mir gelassen habe, bin ich auf einer flachen, hohen, ausgedörrten
Grasebene angelangt. Die alte historische Pilgerstraße ist hier ein mit
Steinmauern begrenzter Schotterweg. Millionen und Abermillionen Pilger sind mir
auf dieser Spur vorangegangen, und weitere Millionen werden mir folgen. Ich bin
nur ein kleines Staubkorn auf diesem langen Weg, der aber gerade aus solchen
kleinen Staubkörnern besteht. Ohne die Existenz von Pilgern wie ich, wäre
dieser Weg, diese Verbindung zwischen Ländern und Völker, die die Neugründung
vieler Städten bewirkte, gar nicht entstanden. Ich bin Ursache und Produkt
dieser tausendjährigen Pilgertradition.
    Jetzt allerdings laufe ich allein. Weit
und breit ist kein Mensch zu sehen. Die weitläufige, einsame Landschaft macht
es mir leicht, mich in die alte Zeit versetzt zu fühlen. Große Änderungen haben
sich hier seitdem nicht ereignet. Der Weiler la Roche bestätigt diesen
Eindruck. Die niedrigen, aus schwarzen Basaltsteinen erbauten Häuser hängen am
Rand eines sich unvermittelt auftuenden schluchtartigen Tales, das ein Bach in
die Ebene eingeschnitten hat. Obwohl die Gebäuden bewohnt erscheinen, zeigt
sich keine Menschenseele. Der altertümliche, wehrhafte Charakter der Siedlung
atmet eine dichte archaische Atmosphäre. Mein Weg steigt weiter. Es ist ein
sehr steiniges Land: Die Felder sind mit Trockenmauern, die aus Feldsteinen
aufgeschichtet sind,

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