Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
umfriedet. Nur der jahrhundertelangen, fleißigen Arbeit
der Bauern, mit der sie alle bewegbaren Steinbrocken von den Feldern geholt
haben, ist es zu verdanken, daß der hier kaum vorhandene Mutterboden überhaupt
bewirtschaftet werden kann. Die Wiesen und die magere Äcker sind das Ergebnis
dieses endlosen heroischen Kampf gegen die karge Natur. An manchen Ecken sind
solche Mengen von Steinen gesammelt worden, daß sie in den Grenzmauern nicht
unterzubringen gewesen sind. So sind sie zu großen Halden hochgetürmt.
Am Dorfeingang von Montbonnet steht
eine neunhundert Jahre alte romanische Kapelle. Sie ist dem Heiligen Rochus
gewidmet, wahrscheinlich umgewidmet wie zahlreiche andere, ursprünglich dem
Jakobus geweihte Kirchen und Kapellen. Auch hier ist die Mauer, die den Chor
von dem kleinen Schiff trennt, nach außen turmartig erhöht und mit
Glockennischen versehen.
Kaum zu glauben: Es fängt zu regnen an.
Vorerst scheint es nur ein kurzer Regenschauer zu sein, so paßt es hervorragend,
daß ich im Dorf Montbonnet ein Lokal finde, das offen ist. Zwar erinnert in der
„Bar de St-Jacques“ nichts an den Namensgeber, aber der Kaffee, den ich dort
trinke, schmeckt trotzdem gut.
Als der Regen eine Pause macht, laufe
ich auf der Landstraße bis le Chier. Hier treffe ich einen Radfahrer, der sich
als radfahrender Jakobspilger aus der Schweiz erweist. Dementsprechend groß ist
meine Freude, ihn begrüßen zu können. Er ist ein braungebrannter, sympathischer
Pilgerbruder, der den Weg aus der Schweiz nach Spanien schon einmal begangen
hat. Damals, vor zwei Jahren, ist er mit seiner Frau zu Fuß unterwegs gewesen.
Seine jetzige Fahrradtour ist eine Wiederholung dieser Pilgerreise im
Zeitraffer. Da der Regen wieder stärker wird, verabschieden wir uns, um uns
nachher an unserem gemeinsamen Tagesziel, in St-Privat-d’Allier, zu treffen.
Ein mit blühenden Ginstern fast zugewachsener Pfad bringt mich in den etwas
tiefer gelegenen Ort, der auf dem Hang eines Tales erbaut wurde. Das auf einem
Felssporn thronende Schloß mit dem weitsichtbaren gotischen Kirchturm bestimmt
das malerische Ortsbild.
In dem einfachen Hotel, wo ich Eugen,
den Schweizer, wiedertreffe, begegne ich noch weiteren Pilgern und Wanderern:
einem Holländer aus Amsterdam mit seiner Frau sowie vier Damen aus Deutschland,
die bis Cahors laufen wollen.
Den Abend verbringe ich mit Eugen im
Hotelrestaurant. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der diesen ganzen Weg
schon zu Fuß gegangen ist. Meine mit brennender Neugier gestellten Fragen werden
von ihm geduldig, wohlwollend und mit großer Kenntnis beantwortet. Die
Informationen, die ich von ihm erhalte, sind praktischer Natur, wie ich sie bis
jetzt in keinem der von mir gelesenen Bücher gefunden habe. So erfahre ich, daß
man in den französischen Herbergen (gîtes ), die es,
wenn auch nicht so oft wie hier, nicht nur auf diesem Weg, sondern auch
anderswo im Frankreich gibt, sehr wohl schlafen kann, wenn man seine Ansprüche
etwas zurückschraubt. Dafür kostet die Übernachtung in einem dieser Häuser nur
12 bis 15 DM. Diese Herbergen sind meistens in kommunaler Trägerschaft. Die
Einrichtung ist überall etwa die gleiche. Die Schlafsäle haben Betten mit
Wolldecke und Nackenrolle, also ein eigener Schlafsack ist zwar empfehlenswert,
aber nicht unbedingt notwendig. Es gibt überall eine warme Dusche sowie
Kücheneinrichtung, womit man sich selbst Mahlzeiten zubereiten kann. Die Güte
der Unterkünfte ist sehr unterschiedlich, von „ganz passabel“ bis „unter aller
Sau“ werde ich auf dem langen Weg alles antreffen. In Spanien ist es oft auch
mit dem bescheidenen Komfort vorbei: Dort gibt es weder Decken noch Kissen,
also ist ein Schlafsack zu haben unerläßlich. Die Duschen haben dort oft nur
kaltes Wasser, und auch Kochgelegenheiten findet man nur noch selten. Dafür
begnügt man sich dort mit einer geringen Spende von 4 bis 5 DM.
Nachdem ich bis hierher täglich fast
hundert Mark benötigte, höre ich dies wie eine frohe Botschaft. Vielleicht kann
ich es mir demnächst erlauben, ab und zu warm zu essen; ich habe schon fast
vergessen, wie ein Stück Fleisch schmeckt.
Nach dem langen Gespräch an diesem
Abend fühle ich mich so, als ob ich irgendwo angekommen wäre. Wie in einem
Initiationsritual habe ich die letzten noch fehlenden Informationen bekommen,
die mir den Weg nach Santiago de Compostela endgültig freimachen.
Sonntag, am 27. April
Von St-Privat-d ’ Allier nach
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