Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
tausend Jahren Millionen von müden Pilgern
aufnahmen und sie ausgeruht auf den weiteren Weg schickten, auch mich, den
späten Pilgerbruder, stärken lassen.
Die Altstadt, die auf einem der drei
Basaltkegel erbaut wurde, hat ihren mittelalterlichen Charakter gut behalten.
Auf engen, von uralten Häusern und Palästen gesäumten Gassen erreiche ich den
Place des Tables mit den gotischen Brunnen, wo die Pilger ihren Durst stillen
konnten, bevor sie auf der steilen Rue des Tables die Kathedrale erreichten.
Der Platz und die Straße erhielten ihren Namen von den Verkaufstischen, auf
denen den Pilgern früher verschiedene Waren angeboten wurden. Auch heute befinden
sich hier hauptsächlich kleine Andenkenläden.
Die Erinnerungen an längst vergangene
Zeiten weckende steile Gasse wird von der gigantischen Vortreppe der Kirche
fortgesetzt und von der himmelhohen romanischen Fassade krönend abgeschlossen.
Die schwindelerregende Höhe der dreigegliederten Westfront ergab sich nach dem
Umbau aus dem Umstand, daß die Kirche in Richtung des steil abfallenden
Westhanges erweitert und mit einer mächtigen Vorhalle unterfüttert wurde. Das
aus zweifarbigen Steinen gebildete Schachbrettmuster der Wände und Bögen
erinnert an orientalische Bauwerke. Die Straße, die Treppe und die
abschließende romanische Bogenkaskade vereinigen sich zu einem Ensemble der
Vollkommenheit. Ich kann mich nicht erinnern, je eine majestätischere Hinführung
zu einem Gotteshaus gesehen zu haben.
Der Besuch der Kathedrale wird dagegen
eine Enttäuschung: Fast der gesamte Innenraum ist eine einzige Baustelle. Nur
das erste, das westlichste Joch der Kirche ist zugänglich. Hier wurde
provisorisch die sonst auf dem Hauptaltar thronende Schwarze Madonna
aufgestellt. Die gibt es nämlich nach wie vor: Neun Jahre nach der öffentlichen
Verbrennung hat der neue Bürgermeister eine Kopie der alten Statue gestiftet,
die damals mit einer feierlichen Prozession in die Kirche getragen und an der
alten Stelle neu aufgestellt wurde. Der Verehrung hat dies keinen Schaden
zugefugt; alt oder neu, der Glaube macht die Wunder.
Hinter der Kirche ist der Eingang zu
dem berühmten Kreuzgang. Der orientalische Eindruck ist hier noch auffälliger
als an anderen Bauteilen des Kirchenkomplexes schon gesehen. In den gedrungenen
Rundbögen wechseln sich die grauen mit den rötlichen Steinsegmente ab, ganz
nach dem Geschmack, der damals von Byzanz durch Nordafrika bis Spanien
herrschte und aus Spanien bis hierher getragen wurde. Die Felder über den
Steinbögen sind aus roten und weißen Ziegelsteinen in Rautenmuster gelegt. Die
romanischen Kapitelle der Säulen sind meistens mit klassischen
Akanthusblättern, das Symbol des ewigen Lebens, dekoriert. Einzelne Säulenköpfe
sind aber figürlich ausgebildet. So sind eine Nonne und ein Mönch zu sehen, die
um einen Bischofsstab ringen. Auch ein Kentaur, der in der alten Bildersprache
Wollust verkörpert, schaut, eher gelangweilt als wollüstig, auf mich herunter.
Von einem bärtigen Steinmann, der zwischen zwei Tauben seinen ewigen Platz
gefunden hat, wird sogar behauptet, daß er Carolus Magnus darstelle.
Vorstellbar wäre es schon, daß der große Kaiser auch hier gewesen ist: Der
reisewütige Herrscher hat in seinen vierzig Regierungsjahren etwa
hunderttausend Kilometer im Sattel verbracht und so gibt es kaum einen Ort in
seinem damaligen Riesenreich, den er nicht besucht hat.
Ich besuche das Pilgerbüro, vielleicht
kann ich dort Informationen über den weiteren Weg erhalten. Wie sich zeigt,
sind sie für die Organisation von Pilgerfahrten und nicht für Einzelpilger
zuständig, aber eine nette Dame empfängt mich sehr freundlich, bietet mir
Platz, Kaffee und Gebäck an, was ich dankbar annehme. Informationen betreffend,
verweist sie mich an das Touristenbüro.
In diesem Büro bekomme ich eine Liste
der Herbergen von Le Puy bis Conques, allerdings mit der Warnung versehen, daß
diese Unterkünfte meistens sehr primitiv und, zumal ohne einen richtigen
Schlafsack, zum Übernachten völlig ungeeignet sind. Als Alternative erhalte ich
eine Hotelliste mit recht günstigen Häusern.
Samstag, am 26. April
Von Le Puy-en-Velay nach St-Privat-d ’ Allier
Schon die Namen
der Straßen, auf denen ich die Stadt nach Westen verlasse, zeugen von alter
Pilgertradition: Rue Saint-Jacques, Rue de Compostelle. Den Stadtverkehr nehme
ich kaum wahr, dafür höre ich einen vom Wind verwehten, leisen Pilgergesang.
Alles nur Einbildung,
Weitere Kostenlose Bücher