Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
ungeeignet. Es gibt zwar einen bekiester Randstreifen, der das Laufen
hier überhaupt ermöglicht, aber der Fahrtwind der pausenlos vorbeidonnernden
Lastzüge will mich von der Straße fegen.
Es ist schon merkwürdig, wie ich mich
in dieser Autofahrerwelt, die normalerweise auch meine Welt ist, als Fußgänger
fremd fühle. Wenn ich zum Beispiel ein Schild sehe: „Bar 3 min“, dann ist es nicht für mich gedacht, ich brauche
dafür etwa eine Stunde. Ich bin diesbezüglich eine Unperson, fehl am Ort und in
der Zeit, wie ein Bogenschütze in dem Zweierbob.
Die meisten Autofahrer versuchen
möglichst großen Abstand zu mir zu halten, aber bei einigen habe ich das
Gefühl, daß sie ihr Territorium gegen mich, den Eindringling, schützen wollen,
und so fahren sie mutig und unerschrocken, wie sie sind, ganz nah an mich
heran, um mir Angst zu machen, und das mit großem Erfolg.
Die letzte Stunde führt mich
schließlich durch die wenig attraktiven Vororte, in die Stadt Le Puy-en-Velay. Damit
habe ich genau die Hälfte meines Weges von Kassel nach Santiago de Compostela
geschafft! Wie ambivalent diese Aussage sich anhört!
Ich suche mir ein zentral gelegenes,
einfaches Hotel. Die Stadt ist relativ groß, etwa dreißigtausend Menschen leben
hier; ich finde leicht eine geeignete Unterkunft. Die junge Dame in der
Rezeption duftet eigenartigerweise nach Schokolade.
Freitag, am 25. April
In Le Puy-en-Velay
Am 8. Juni des Jahres 1794 sind dieEinwohner des Gnadenortes Le Puy zuschauende Zeugen eines
Spektakels gewesen, dessen Borniertheit seinesgleichen sucht: An diesem Tag
wurde die Schwarze Jungfrau, eine uralte Marienstatue, die nach der Legende der
heilige König Ludwig IX. von einem Kreuzzug mitbrachte, an der für
Hinrichtungen vorgesehenen Stelle der Place du Martouret samt vielen anderen
Bildern und Heiligenfiguren, die aus den Kirchen und Klöstern der Umgebung
geholt wurden, öffentlich verbrannt. Damit haben die Verantwortung tragenden
revolutionären Stadtväter die Quelle des Reichtums, die die Gemeinde groß
gemacht hatte, mutwillig vernichtet.
Le Puy liegt auf einem Gebiet, das sich
in erdgeschichtlichen Zeiten durch rege vulkanische Tätigkeit auszeichnete,
wobei die Krater ungewöhnlich nah beieinander lagen. In späteren Jahrmillionen
haben die Flüsse und der Wind die weicheren vulkanischen Ablagerungen
abgetragen; übrig blieben die härteren, in Schloten erstarrte Lavagesteine, die
heute als Basalttürme steil aus dem Talboden ragen. Dieses außergewöhnliche,
eigenartige Landschaftsbild hat die Menschen schon in vorchristlichen
Jahrhunderten veranlaßt, hier mystische Kräfte zu vermuten und kultische
Handlungen durchzuführen. Die heidnischen Kultstätten wurden oft von dem sich
ausbreitenden Christentum übernommen. Der heute noch existierende Pierre des
Fièvres, der Fieberstein, zeigt diese Entwicklung. Der vermutliche Altarstein
der Heiden wurde schon in der Mitte des 1. Jahrtausends wegen seiner
fieberheilenden Wirkung besucht. Mit der aufkommenden Marienverehrung hat man
für diese Wundertätigkeit die Gottesmutter verantwortlich gezeichnet. Es
entstand ein christlicher Wallfahrtsort, der immer mehr Pilger von immer weiter
entfernten Gebieten anlockte.
Wer hat, dem wird gegeben: Als vor etwa
tausend Jahren das Pilgern nach Santiago de Compostela europäische Dimensionen
annahm, lagen einige Wallfahrtsorte, zu denen auch Le Puy gehörte, zufällig auf
dem Weg nach Spanien. Was lag näher, als unterwegs auch diese Orte zu besuchen
und dadurch die heilbringende Wirkung der Pilgerei zu erhöhen? So haben zahlreiche
Pilger, die aus Süddeutschland, aus der Schweiz oder aus Osteuropa zum Grab des
Jakobus reisten, den durch Le Puy führenden Weg gewählt.
Auf den Ansturm der Pilgermassen hat
man sich gut einzustellen gewußt: Die Wallfahrtskirche wurde vergrößert; es entstand
die heutige Kathedrale. Mehrere Herbergen und Hospitäler wurden errichtet, die
hinbringenden und weiterführenden Wege ausgebaut und mit Brücken versehen.
Heute würde man dies alles als „Ausbau der Infrastruktur“ bezeichnen, was im
Endeffekt weitere Pilgerscharen anlockte, und der Stadt in ähnlicher Weise
wirtschaftlichen Aufschwung bescherte, wie es heute an vielen
Fremdenverkehrsorten geschieht.
Ich bleibe heute in Le Puy. Nach den
für mich schwierigen zwei Wochen, in denen ich die Spiritualität des Weges
vermißt habe, möchte ich hier auf den Spuren meiner pilgernden Ahnen wandeln
und von den Straßen, die seit
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