Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Saugues
Seit gestern regnet
es. Das Tal ist randvoll mit tiefhängenden, feuchten Wolken gefühlt, aber das
graue Bild wird von meiner inneren Heiterkeit aufgehellt. Der gestrige Tag hat
die Freudlosigkeit der Zeit vor Le Puy restlos vertrieben und alle meine
Hoffnungen, hier für die Pilgerei angenehmere Bedingungen vorzufinden, erfüllt.
Ich denke, ich bin über den Berg.
Allerdings nur bildlich gesprochen:
Heute muß ich den Schlucht Gorges de d’Allier überwinden, einen etwa
sechshundert Meter tiefen Einschnitt, der quer zu meinem Wege steht. Doch bevor
ich mich in tiefere Regionen begebe, steige ich erst einmal hoch bis zu dem
Dörflern Rochegude, wo ich die kleine St-Jakob-Kapelle besuchen möchte.
Die schmale, regennasse Asphaltstraße
ist ohne Verkehr und als ich den Ort erreiche, wundere ich mich, an welch
verlassenen Ecken dieser Welt Menschen leben können. Unter der mit einer
Burgruine bekrönten Felsenkuppe sind nur etwa ein halbes Dutzend geduckte
Steinhäuser zu sehen. Drei nasse, laut bellende Hunde lassen mich daran
zweifeln, ob ich den Weg zu der Kapelle lebend passieren kann, aber dann
erlauben sie mir doch noch, vorbei zu gehen.
Das romanische Kirchlein mit dem
schlichten Äußeren steht, auf einen Felsbrocken erbaut, wortwörtlich am
Abgrund. Es gibt nur von Norden her ein schmaler Zugangspfad, wo der einzige
Eingang, eine etwa 1,70 Meter niedrige Seitentür sich befindet. Leider ist
diese geschlossen. Entschädigt werde ich von der heute etwas diesigen, aber
trotzdem überwältigenden Aussicht, die von dieser Stelle nach Westen in das
Tal, und an der anderen Talseite auf die Berge sich eröffnet.
Der Regen treibt mich weiter. Jetzt
geht es richtig steil abwärts. An einem mit Kiefern bewachsenen, felsigen Hang
windet sich der schmaler Fußpfad hinunter ins Flußtal. Blanke, nasse Steine
dienen als Treppenstufen, wobei ich höllisch aufpassen muß, daß ich nicht
ausrutsche.
Unten am Talsohle liegt das Dorf
Monistrol-d’Allier. Trotz der malerischen Lage am Fluß finde ich den Ort
unattraktiv: die Turbinenanlagen eines großen Wasserkraftwerks und die
zahlreichen, abgehenden Hochspannungsleitungen bestimmen das Bild. Auf einer
schmalen Stahlgitterbrücke, die von der Firma des Turmbauers Eiffel erstellt
wurde, überquere ich den Fluß Allier, und setze den Weg auf der schmalen, steil
in die Höhe windenden Asphaltstraße fort, vorbei an manchen hohen Basalttürmen,
die aus tausenden einzelnen, senkrecht in die Höhe strebenden, steinernen
Orgelpfeifen bestehen.
Links über der Straße versteckt sich
die Chapelle de la Madeleine aus dem 17. Jahrhundert. Sie klebt, wie ein
Schwalbennest, unter dem Felsüberhang in einer Grotte. Gemauert sind nur zwei
der Außenwände; die hintere Begrenzung wird von der Felswand gebildet. Rechts
von der Kapelle ist eine Reihe von merkwürdigen Felsnischen, die früher als
Grabkammer gedient haben könnten.
Hinter der Kapelle steigt ein steiler
Feldweg zum Weiler Escluzels, der einen ziemlich verlassenen Eindruck macht.
Menschen sehe ich keinen, und sogar die Hunde ziehen sich zurück, als die mich
kommen sehen. Ich fülle am Dorfbrunnen meine Feldflasche und steige weiter.
Schmale Straßen wechseln sich mit Waldwegen ab. Manche der alten Kiefern am
Wegrand zeigen die Spuren von früheren Waldbränden: Verkohlte Baumskelette
mahnen die Wanderer, vorsichtig mit dem Feuer umzugehen.
Die wenigen Häuser von Montaure liegen
am oberen Rand des Tales. Ich verspüre die Freude, die die Pilger empfunden
haben, das tiefe Tal hinter sich zu wissen. Am Tor eines Bauernhauses hängt ein
handgeschriebenes Verkaufsschild, mit dem Pilgerstäbe zum Kauf angeboten
werden. Groß scheint der Umsatz nicht zu sein: Ich bin heute keinem Pilger
begegnet.
Ab hier ist das Gelände wieder
sanftwellig, nach dem tiefen Flußgraben erscheint es mir wie flach. Kleinen
Kiefern- und Buchenwälder wechseln sich mit steinigen Wiesen ab. Mehr als
dünngesätes Getreide und ein wenig Gras für die Kühe gibt der Schotterboden
nicht her. Auf der Höhe von über tausend Metern treiben die Buchen erst jetzt
die ersten zartgrünen Blätter und der Ginster, anderswo voll in Blüte, zeigt
vorerst nur blasse Knospen. Kein Wunder, wenn die wenigen Siedlungen nicht
gerade mit Reichtum gesegnet sind. Viele der Behausungen sind unbewohnt, und
die verlassenen Häuser zerfallen allmählich. Oft liegen neben den Bauten Berge
von Industriemüll: Schrottautos, rostige Ackergeräte, alte Kühlschränke.
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