Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Die
aus der früheren Not geborene Sitte, alles aufzuheben und nichts wegzuwerfen,
läßt die Schutthalden unsinnig wachsen.
Mein Tagesziel Saugues liegt weit
sichtbar in einer Senke. Die Stadtsilhouette wird von zwei Türmen beherrscht:
der mächtige quadratische Wehrturm aus dem 13. Jahrhundert, genannt „Turm der
Engländer“, und der achteckige romanische Kirchturm der Kirche St-Medard. Die
Stadt hat eine alte Tradition als Pilgerstation: Die mittelalterliche Herberge
Hôpital St-Jacques existiert heute noch als Altersheim.
Ich suche mir ein einfaches Gasthaus.
Erst bei dem gemeinsamen Abendessen entdecke ich andere Pilger, die auch hier
abgestiegen sind: die vier Damen aus Deutschland, die ich schon gestern gesehen
habe, und einen kleinen, drahtigen, stillen und freundlichen Herrn von Mitte
Sechzig, ein Franzose aus Paris. Er ist erst heute früh in Le Puy losgelaufen.
Das macht etwa vierzig Kilometer. Respekt, Respekt!
Montag, am 28. April
Von Saugues nach Domaine du Sauvage
Die kenne ich doch,
diese Himmelsfarbe, die mich an mein nordhessisches Zuhause erinnert! Dieses
amorphe Grau, wie es leise vor sich herregnet, ist mir doch bestens bekannt!
Auch heute habe ich ein Bett
ostfriesischer Bauart erwischt: eins mit Gefälle. Das soll am Deichhang eine
waagerechte Ebene ergeben; hier im Zimmer dagegen nicht.
Nach Verlassen der Stadt überquert der Weg
das Flüßchen la Seuge, um an der anderen Seite zwischen weiten Wiesen leicht
steigend nach Süden zu fuhren. Hier sehe ich erstemals die berühmten
Salers-Rinder, eine hier im Massif Central heimische Rasse. Die Tiere mit dem
rötlich-braunen Fell und den auffallend langen, S-förmig geschwungenen
weitabstehenden Hörnern werden extensiv gehalten; sie sind vom Frühjahr bis
Spätherbst draußen und ernähren sich fast ausschließlich von den schmackhaften
Gräsern und Kräutern dieses Hochlandes, was dem Fleisch eine besondere
Geschmacksnote verleiht. Aus der Milch der Kühe wird der gute Käse der Region,
der Cantal-Käse, hergestellt. Gegenüber ihren anderen Artgenossen genießen
diese schönen Viecher ein geradezu paradiesisches Dasein: Sie leben artgerecht
in richtigen Familienverbänden. Die Kühe haben ihre kleinen Kälber bei sich,
und, was ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe, zu jeder Gruppe von
Kühen und Kälbern gehört ein leibhaftiger Stier. Diese mächtigen
muskelbepackten Kolosse sind der unübersehbare Mittelpunkte der jeweiligen
Herde. Sie beobachten in aller Ruhe, wie ich vorbeiziehe und ich finde es bei
aller Tierliebe und Bewunderung ausgesprochen beruhigend, daß uns die
Stacheldrahtzäune voneinander trennen.
Bald hört es auf zu regnen. Auf dem
freien Gelände ist der Weg kilometerweit übersehbar und ich kann die anderen
Pilger, die einzeln vor und hinter mir laufen, beobachten. Wir sind gut ein
Dutzend geworden und alle laufen denselben Weg in derselben Richtung; so werde
ich in den nächsten Tagen den meisten von ihnen wahrscheinlich immer wieder
begegnen.
Nach dem kleinen Ort le Pinet hole ich
einen Pilger ein. Er trägt einen besonders kräftigen Pilgerstab. Die Ritter des
Mittelalters haben die Reitturniere mit solchen Waffen bestritten. Auf den
nächsten Kilometern bleiben wir zusammen. Er heißt Pierre und kommt aus dem
Elsaß, spricht aber kein Wort deutsch. Wir können uns trotzdem ohne Probleme
unterhalten. Es gibt Menschen, die kommunikativ besonders begabt sind. Pierre
ist so ein Mensch. Nach meiner Beobachtung hat diese Eigenschaft wenig mit dem
sicheren Beherrschen der Sprache oder mit der allgemeinen Bildung, eher mit
Kontaktfreude, Geduld und Einfühlungsvermögen zu tun. Auf dem bisherigen Weg
habe ich oft erlebt, daß, wenn ich meinen Gegenüber nicht sofort verstanden
habe, er seine Worte in dem irrigen Glaube, unbekannte Fremdwörter würden durch
die laute Aussprache bekannt, lauter wiederholte. Pierre dagegen hält mit
seinen lachenden Augen ständig den Blickkontakt, und wenn er merkt, daß mein
Blick eine sorgenvolle Trübung bekommt, sucht er so lange nach sinnverwandten
Ausdrücken, bis er beruhigt feststellt, daß ich ihn verstanden habe. Wir haben
gleich einen besonderen Kontakt zueinander und innerhalb kürzester Zeit lerne
ich eine Reihe französischer Wörter, die für einen Fußpilger von Bedeutung
sind, wie bâton (Wanderstab), balisage (Wegmarkierung), boussole (Kompaß) oder chapelet (Rosenkranz).
Zwischendurch werden wir von dem
kleinen Herrn überholt, den ich gestern abend
Weitere Kostenlose Bücher