Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
anderen Talseite auf der Landstraße nach Senergues hoch. Auf einer
weitläufigen Wiese dahinter sind Schweine zu sehen. Sie haben hier alles, was
Schweine glücklich macht: Sonne und Schatten zum Dösen, Gras und Eicheln zum
Fressen, Schlamm und Dreck, um sich darin zu wälzen.
Wieso können hier Schweine und Rinder
so frei gehalten werden? Auch hier betreiben die Bauern die Viehzucht
professionell und nicht als Hobby, also muß auch hier es sich rechnen, Tiere zu
halten. Wie machen sie das?
Bevor wir auf den industriellen
Fleischproduzenten schimpfen, denke ich, jeder muß sich erst an der eigenen
Nase fassen. Wer jeden Tag Schnitzel essen möchte, das ruhig nach Pappe
schmecken darf, Hauptsache, es kostet nichts, dem steht das Klagen über
kriminelle Massenhaltung und üblen Transport der Tiere nicht gut zu Gesicht.
Auf der Höhe hinter Senergues ist es
wieder Zeit für einen Mittagsschlaf. Unter einem alten Eßkastanienbaum lasse
ich meine Augen zufallen. Diese täglichen Stunden der vollkommenen Ruhe und
Entspannung finde ich ganz besonders genüßlich. Sie sind als neue Erfahrung ein
besonderer Gewinn dieser Reise. Wann habe ich sonst in meinem Leben die Muße
und die Möglichkeit, ja die Legitimation dazu gehabt, mich am hei lichten Tag
ungestört ins Gras legen zu dürfen, ohne, daß ich dabei als arbeitsscheuer,
fauler Müßiggänger gegolten hätte?
Weiter auf einer kleinen Landstraße
öffnet sich halblinks vor mir das tiefe, bewaldete Tal der Dourdoun. Auf dem
windgeschützten Südhang blühen schon der erste rote Mohn und die weiße
Margerite. Rot, weiß und grün, ein Dreiklang, der den nahenden Sommer
ankündigt. Irgendwo da unten, für mich noch unsichtbar, liegt die kleine Stadt
Conques.
Die letzte halbe Stunde bringt wieder
ein besonders schönes Stück der Gehstrecke, einen steil nach unter führenden,
schmalen, schattigen Hohlweg, der nachweislich schon im 11. Jahrhundert von
Pilgern benutzt wurde. Wenn ich an die Millionen von Vorfahren denke, die diese
tiefe Spur aus dem steinigen Grund ausgetreten haben, bekomme ich ein
angenehmes Schaudern.
Aus meiner Träumerei werde ich von
einer etwa anderthalb Meter großen Schlange in die Gegenwart zurückgeholt. Dies
etwa vier Zentimeter dicke Tier hat, um sich zu wärmen, sich einen Sonnenfleck
in der Mitte des Weges ausgesucht. So ein riesiges Exemplar ist mir noch nie in
der freien Natur begegnet. Ich kenne mich mit Schlangen nicht aus, aber giftig
wird sie schon nicht sein, dazu ist sie für diese Gegend zu groß geraten. Hier
gibt es zwar Kreuzottern, aber die sind viel kleiner. Auch sie scheint von
meiner Größe beeindruckt zu sein und beeilt sich, indem sie auf die mit Efeu
bewachsene Steinmauer hochkriecht, zu verschwinden.
In Conques anzukommen ist ein wahres
Erlebnis. Da der in diesem abgeschiedenen Tal versteckte uralte malerische
Pilgerort von der Denkmalpflege in seiner Gesamtheit geschützt wird, ist er am
Ortsrand nicht zersiedelt; man kommt aus dem Wald unmittelbar in die mittelalterliche
Stadt hinein. Das fast ausschließlich aus den hiesigen grau-braunen
Schiefersteinen erbaute Dorf ist bogenförmig auf dem steilen Berghang plaziert,
treu dem Ortsnamen, der von der lateinischen Benennung für Muschel ( concha ) abgeleitet wird. Die tausend
Jahre alte Siedlungsstruktur ist gut erhalten geblieben: steile schmale Gassen
und Treppen, aber infolge der engen Hanglage kaum ein größere Platz, der diesen
Namen verdient. Die bestens restaurierten grauen Steinhäuser sind mit
rotblühenden Kletterrosen üppig bewachsen: ein fast kitschiges Bild. Wie in
anderen Orten, die ausschließlich vom Fremdenverkehr leben, wurde auch hier bei
der Ortsverschönerung vielleicht ein bißchen zuviel des Gutes getan, aber was
soll ‘s! Warum sollte ich meiner kindlichen Freude über das
Romantisch-Märchenhafte nicht nachgeben? Daß ich in diesem Märchen eine aktive
Rolle spielen darf, indem ich als Fußpilger nach tausendsechshundert Kilometern
hier in die Stadt ziehe, ist ein beglückendes Privileg.
In der Ortsmitte, hinter der Kirche,
befindet sich das alte Kloster der Prämonstratenser-Mönche, wo religiös
motivierte Pilger gern beherbergt werden. Es gibt zwar in Conques auch eine
gute Gemeinde-Herberge, aber eine bessere Adresse als ein Kloster gibt es für
Pilger nicht! Meine Pilgerfreunde haben für mich dort schon ein Bett
reserviert. Wohl dem, der Freunde hat! Ich teile eine einfache, aber
zweckmäßige Kammer mit Pierre. Die Stimmung beim
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