Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Abendessen, das wir nach
kurzem Gebet in Gesellschaft von Mönchen einnehmen, ist friedvoll angenehm; ich
fühle mich sehr gut angenommen.
Mont ag, am 5. Mai
In Conques
Nachts ist ein heftiges Gewitter
niedergegangen. In dem engen Tal haben sich die
Donnerschläge verstärkt und sich angehört, als wenn riesige wassergefüllte Wolkenschläuche
zerplatzen würden. Auch am Tag wechseln sich Regen und Gewitter mit kurzen
sonnigen Abschnitten ab.
Meine Pilgerfreunde wollen heute in
Conques bleiben; ich will es ihnen gleichtun.
Conques ist im 9. Jahrhundert als
Einsiedelei gegründet worden. Bald übernahmen die Benediktiner die kleine
Ordensgemeinschaft. In der Anfangszeit haben Schenkungen vom Karl den Großen
und seinem Sohn Pipin II. das Überleben des Klosters ermöglicht; sie hatten
politisches Interesse daran, hier, in dieser wilden Waldgegend ein Machtzentrum
entstehen zu lassen.
In der Folgezeit hat das Glück, dem
allerdings etwas nachgeholfen wurde, dem Kloster bis zum Überfluß reichenden
wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Die Nachricht vom Grab des heiligen
Jakobus in Galicien hat eine wahre Völkerwanderung aus ganz Europa in Gang
gesetzt. Die Pilgermassen haben die Landstriche, durch die sie den Weg nach
Spanien gebahnt haben, mit wirtschaftlicher Belebung beglückt. Man mußte also
die Pilger irgendwie anlocken. In einer Zeit, in der der Reliquienkult ein
heute kaum vorstellbares Maß erreichte, ging dies am besten mit wundertätigen
Überresten eines Heiligen. Aber Reliquien waren für ein abgelegenes Kloster
unbezahlbar teuer. Beispielsweise wurde die Sainte-Chapelle in Paris, dieses
Wunderwerk der Gotik, von Louis IX. als Reliquienschrein für die Dornenkrone
und einen Splitter von dem Kreuz Christi erbaut. Der König hat für diese
Gegenstände dreimal (!) soviel bezahlt wie die Baukosten für die Kirche
betragen haben.
Wie lösen fromme Mönche das Problem:
Sie brauchen eine Reliquie, aber sie können die nicht bezahlen?
Nun, bei der Konkurrenz im fernen Agen
wurde der Leichnam der heiligen Fides aufbewahrt. Das Mädchen wurde im 4.
Jahrhundert wegen ihres christlichen Glaubes hingerichtet; es ist gerade zwölf
Jahre alt geworden. Ihr wundertätiges Grab wurde von weither angereisten
Gläubigen hochverehrt. An einem schönen Tag des Jahres 866 verschwand die
Heilige aus ihrem Sarg, um kurze Zeit später in Conques aufzutauchen. Ein
Wunder ist geschehen! Die Märtyrerin Ste-Foy, wie Fides französisch heißt, hat
selbst die Wahl getroffen: Sie wollte lieber in Conques ruhen!
Heute würde man diese „wundersame
Heimführung“ sicher anders beurteilen als damals. Jedenfalls hat die Verehrung
durch die neue Adresse keinen Schaden genommen. Schon in dem ersten bekannten
Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, im Codex Calixtinus, wird zu einem Besuch geraten:
„Die
Burgunder und Deutschen, die über die Straße von Le Puy nach Santiago ziehen,
müssen das Grab der heiligen Jungfrau und Märtyrerin Fides besuchen.“ Und weiter: „ Über dem Grab errichteten sie eine schöne
Basilika, in der bis heute zum Ruhme Gottes die Benediktregel unverändert
befolgt wird. Dort erfahren Gesunde und Kranke zahlreiche Wohltaten. Vor den Toren
der Basilika sprudelt eine Quelle, deren Wunderkraft unbeschreiblich ist.“
Die romanische Abteikirche Sainte-Foy
steht heute noch in der Ortsmitte; auch die beschriebene Quelle sprudelt wie eh
und je.
Über dem Doppeltor der Kirche befindet
sich eines der schönsten Tympana, das die romanische Kunst hervorgebracht hat.
Das Thema der figürlichen Darstellung ist, wie so oft, das Jüngste Gericht. Im
Zentrum thront der richtende Christus. Zu seiner Rechten ist das wohlgeordnete
Paradies, in dem die Auserwählten Aufnahme finden. Zur Linken ist die Hölle,
voll Chaos, Pein und Grausamkeit.
Was dieses Werk so außergewöhnlich
macht, ist die unnachahmliche Lebendigkeit der Szenen und Figuren, die, bei
aller beabsichtigten moralischen Lehre, eine gewisse Heiterkeit vermitteln.
So sind beispielsweise der Erzengel
Michael und ein Teufel dargestellt, die mit Hilfe einer Waage die Seelen der
Verstorbenen bewerten: in eine Schale kommen die gute Taten, in die andere die
Sünden. Der Teufel, ein schelmisch grinsender Geselle, versucht dabei zu
mogeln, indem er unbeobachtet mit seinem Zeigefinger die Schale der Sünden
zusätzlich belastet. In einer anderen Szene werden die Personen gezeigt, die
schon Einlaß ins Paradies gefunden haben; unter ihnen Karl der
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