Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
mal
verbunden ist, doch nicht gewachsen. Wir schieben unsere Tische zusammen, und
lassen uns das gute Essen und den vorzüglichen Wein schmecken. Spezialität des
Hauses ist das volkstümliche Gericht des Massiv Central, genannt l’aligot. Es ist ein Brei aus
Kartoffelpüree und Cantalkäse, crème
fraîche und Gewürz, hat die Konsistenz von mittelsteifem Beton, aber
einen herrlich-würzigen Geschmack.
Meine Tischnachbarin, eine sympathische
Mittfünfzigerin aus Deutschland, erzählt, daß sie Altenpflegerin ist und diese
Arbeit gern macht, weil sie gern mit alten Menschen zusammen ist. Ich frage
sie, ob sie mein Alter dazu für ausreichend hält, daß sie auch mit mir gern
zusammen sein könnte, worauf sie zurückfragt, ob ich auch pflegebedürftig sei?
Dies muß ich mit Entschiedenheit verneinen.
Donnerstag, am 1. Mai
Von Nasbinals nach St-Chely-d ’ Aubrac
Die rote Fahnehabe
ich ausgerollt: Heute ist der 1. Mai.
Eigentlich ist es schlimm, wie der
Gedenktag der internationalen Arbeiterbewegung in den letzten hundert Jahren
von linken und rechten Politgauklern mißbraucht wurde, aber aufgrund meiner
Erfahrungen, die ich in den fünfziger Jahren mit dem real existiernden
Sozialismus als Pflichtdemonstrant sammeln durfte, fällt auch mir zu diesem Tag
nur Spott und Häme ein. So unterhalte ich meine Pilgerfreunde beim Frühstück mit
ungarischen und russischen Erste-Mai-Liedern. Das Erfolg ist überwältigend.
Gestern bin ich fast die ganze Strecke
mit den anderen Pilgern gelaufen und das hat meinen Füßen und Knien nicht
gutgetan. Ich gehe normalerweise etwas langsamer als die anderen. Das hat mit
der körperlichen Kondition oder mit der Übung nur wenig zu tun, sonst müßte ich
ja der schnellste sein. Das Alter kann auch nicht allein bestimmend sein:
Maurice, der älteste in Domaine du Sauvage, hat uns alle hinter sich gelassen.
Meine optimale Tagesstrecke ist zwanzig
bis fünfundzwanzig Kilometer lang. Die ersten acht bis zehn Kilometer gehe ich
recht flott an. Dann brauche ich eine kurze Pause, in der ich mich für eine
Viertelstunde hinsetze. Dann folgen die nächsten acht bis zehn Kilometer, bis
ich mich meinem Ziel etwa auf ein bis zwei Stunden angenähert habe. Jetzt
brauche ich eine Mittagspause, in der ich eine Kleinigkeit esse und trinke und,
wenn das Wetter es erlaubt, ein Stündchen schlafe. Danach ist der Rest des
Weges eine lockere Angelegenheit.
Wenn ich am frühen Nachmittag an meinem
Ziel ankomme, dusche ich, wasche meine Sachen, mache meine Tagebucheintragungen
und schaue mir den Ort, in dem ich mich befinde, an. Nach dem Abendessen gehe
ich um zehn Uhr schlafen. Ich glaube, wenn sich dieses Tagesablauf immer
durchhalten ließe, könnte ich jahrelang weiterlaufen.
Um heute allein laufen zu können, lasse
ich die anderen vor, aber es nützt mir wenig. Ich weiß nicht, wie es kommt,
aber nach einer Stunde sind wir alle fünf wieder beisammen. Offensichtlich
überwiegen die Vorteile, die das Zusammensein mit netten Menschen mit sich
bringt, die von mir erwähnten Nachteile.
Obwohl unser heutiger Ausgangspunkt
schon in einer respektablen Höhe lag, geht es weiter aufwärts, bis wir auf
einem weiten, hügeligen Wiesenfeld ankommen. Trotz aller Ähnlichkeiten ist es
eine andere Landschaft als die bisherige. Runde Steine, wie gestern, gibt es
hier keine, nur noch Gras, soweit die Augen schauen können. Auch ein Weg oder
Pfad fehlt, nur die etwa hundert Meter voneinander entfernten Pfosten und eine
kaum wahrnehmbare Spur zeigen die grobe Richtung an. Da einige Zwischenpfosten
fehlen, wäre die Orientierung im Nebel problematisch. Wir haben heute aber
keine diesbezüglichen Schwierigkeiten: Nach den wolkigen, regnerischen Tagen
ist der Himmel wieder makellos blau. Die Luft ist noch kühl, aber so wie die
Sonne höher steigt, wird es allmählich milder. Von Zeit zu Zeit müssen wir
Stacheldrahtzäune überwinden, allerdings hier mit Hilfe von kleinen
Holzstiegen, die für diesen Zweck bereit stehen.
Die Gegend ist wie verlassen: Weder
Mensch noch Tier ist zu sehen und auch die wenigen einzelnen Behausungen, die
kilometerweit voneinander liegen, scheinen unbewohnt zu sein. Später taucht in
der Feme doch noch eine einsame, uns entgegen laufende Wanderergestalt auf.
Erst als sie näher kommt, sehen wir, daß es eine junge Ordensschwester ist. Sie
trägt, wie wir, einen schweren Rucksack und erzählt, daß sie einkaufen gewesen
ist und sich auf dem Weg nach Hause befindet. Sie lebt, weit
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